Impuls zum Placidajahr von Sr. Maria Hildegard Schültingkemper
Wenn im Frühling die Natur aus dem Winterschlaf erwacht, wenn aus der Erde, an kahlen Bäumen und Sträuchern, aus Felsspalten und Mauerritzen junge Triebe und Knospen sprießen, berührt uns darin etwas von der unbesiegbaren Kraft des Lebens und vom österlichen Geheimnis der Auferstehung.
Dann blüht auch wieder die Linde, der Baum, der im Ordensbewusstsein der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel in besonderer Weise für Placida Viel steht. Sie breitete 1862 mit der Gründung der ersten deutschen Niederlassung die Zweige des in Frankreich gepflanzten „Ordensbaumes“ über die Grenze hinaus aus, die zwei politisch verfeindete Völker voneinander trennte.
Nicht von ungefähr wird Placida Viel mit einer Linde verglichen.
In der Mythologie und Baumsymbolik wird die Linde als Baum beschrieben, der in seiner Erscheinung Herzlichkeit und Wärme ausstrahlt, ja ein geradezu mütterliches Wesen. Mit ihren herzförmigen Blättern, ihrem süßen Blütenduft und ihrer ausladenden Krone weckt sie die Empfindung von Heimat und Geborgenheit. Die frei stehende Linde ist ein wunderbarer und einladender Ort der Erholung und Stille, aber auch Mittelpunkt geselligen und auch gesellschaftlichen Lebens. Die Heilwirkung der Blüten vermag manche krankhaften Beschwerden zu lindern. Der Name „Linde“ ist denn auch sinnverwandt mit „lind“. Der Kräutervater Lonicerus schreibt im Mittelalter: „Die Linde hat ihren Namen von Lindigket“, was auf eine besänftigende Eigenschaft hinweist. Ihre Kraft, sich schnell zu verjüngen und immer wieder neu auszuschlagen, lässt die Linde auch so manchen Rückschlag überstehen. Aufgrund ihrer Eigenschaften hat die Linde seit frühester Zeit die Sympathie der Menschen erobert.
Als Placida Viel starb, machte sich die Trauer breit in der Klage: „Die gute Mutter der Kinder, der Armen und Kranken ist tot!“ In ihrer Warmherzigkeit war sie eine wirkliche Schwester der Barmherzigkeit, die bei allen sachlichen und organisatorischen Herausforderungen in der Leitung und im Aufbau der Gemeinschaft zuerst eine Frau des Herzens war, ein Mensch mit einem weiten, grenzenlosen Herzen. Es zeigte sich in ihrer zärtlichen Liebe zu den Kindern, in ihrer unterschiedslosen Fürsorge für die verwundeten Soldaten des deutsch-französischen Krieges, in großzügiger Sorge für die Schwestern in Krankheit und Alter. Die Weichen für die Anfänge des deutschen Zweiges stellte sie mit weitherzigen Entscheidungen und Zugeständnissen, und als im Kulturkampf die deutschen Schwestern ihre Häuser und Einrichtungen aufgeben mussten, fanden sie unter dem Dach der Abtei in Frankreich Heimat und Geborgenheit.
„Es gibt immer einen Weg“, war eine Devise Schwester Placidas, und sie vertrat den Grundsatz: Nie etwas verweigern, was man geben kann, auch wenn man das Eigene teilen muss. „Liebe“, sagte sie, „macht erfinderisch, weil sie den Anderen mit den Augen Gottes sehen lehrt“, mit den Augen eines gütigen und einfühlsamen Herzens, die jedem Menschen in seiner Würde und Bedürftigkeit Ansehen und Raum zum Leben schenken.
Bei allen Herausforderungen zu entschiedenem und tatkräftigem Handeln war Placida Viel zutiefst ein Mensch der Stille. „Stille ist die Quelle des Gebetes und des Friedens. Die Stille holt Gott in die Seele“, sagte sie. Die Verwurzelung in Gott gab ihrem Lebensbaum Kraft und Halt, Stürmen und Widrigkeiten standzuhalten und trotz Narben abgeschlagener Äste und Verwundungen wie ein schützender Baum die Zweige weit auszubreiten. In ihrer Nähe konnten Menschen leben, sich entfalten und Vertrauen ins Leben schöpfen. „Um gut genug zu sein, muss man ein wenig zu gut sein“, meinte sie. Darin drückt sich wohl das Plus der Barmherzigkeit über vergleichende Gerechtigkeit aus. Erst die Verbindung von beidem bewirkt die so wünschenswerte Klimaerwärmung in den Beziehungen der Menschen. Schwester Placidas Einstellung kann uns im Jahr der Barmherzigkeit ein anspornender Impuls sein.
Stichwort Placida-Jahr:
Die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel gedenken von September 2015 bis September 2016 der Gründerin ihrer deutschen Kongregation, Schwester Placida Viel. Schwester Placida war die zweite Generaloberin der französischen Gemeinschaft und kleidete 1862 vier Lehrerinnen in Heiligenstadt ein. Seit 1920 ist der daraus entstandene deutsche Ordenszweig eigenständig. Schwester Placida wurde als Victoria Viel am 26. September 1815 – also vor 200 Jahren – geboren.