Jugendliche flüchten vor dem Weihnachtsfest – und feiern es in der Manege
Weihnachten ist den meisten Jugendlichen in Berlin-Marzahn, mit denen Schwester Margareta Kühn und Schwester Maria Raphaela Benkhoff zu tun haben, ein Graus. Gemeinsam mit den Salesianern Don Boscos und rund 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern öffnen die beiden Ordensfrauen in der Manege die Türen für junge Menschen, die eine Anlaufstelle brauchen. Gerade an den Feiertagen kommen diese Jugendlichen in Scharen. 2013 waren es 65 an Heiligabend. Obwohl, oder gerade weil sie dieses Fest nicht mögen.
„Hier in der Manege gibt es Platz für alle. Keiner wird ausgeschlossen“, sagt Schwester Margareta. Die Türen sind immer offen, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche. 18 Plätze gibt es sogar für Wohnsituationen in Not. „Nicht jeder, der nachts klingelt, braucht gleich ein Bett. Manchmal helfen Reden, ein Tee, ein tröstendes Wort“, erzählt die Geschäftsführerin der Manage. Die Ordensleute im Haus bilden für die Mitarbeiter im Nachtdienst den sogenannten rückwärtigen Dienst, der zwei- bis dreimal pro Woche aus dem Schlaf gerufen wird, wenn zusätzliche Hilfe notwendig ist. Auch an Weihnachten.
Und tatsächlich feien sie gemeinsam. An „Heiligmorgen“ – wie die Jugendlichen den Vormittag des Weihnachtsabends liebevoll nennen – schmücken sie den Baum und decken die Tafel ein. Abends essen sie so festlich es geht. Auch wenn sie während des Advents spüren mussten, dass Weihnachten wenig von dem bereithält, was es als Fest der Liebe, des Friedens und der familiären Geborgenheit verspricht. Die meisten wissen noch nicht einmal, wer Jesus war und was da gefeiert wird.
Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist durch 20- und 30-geschossige Wohnblocks geprägt. Hier wohnen 250 000 Menschen. Nur drei Prozent gehören in diesem Stadtteil des ehemaligen Ost-Berlins einer Kirche an. 80 Prozent der Jugendlichen haben keinen Schulabschluss. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Viele bekommen es früh mit Drogen oder Kriminalität zu tun. Und genau hier haben die Salesianer Don Boscos und die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel ihr gemeinsames Projekt 2005 ins Leben gerufen. Vor nunmehr fast zehn Jahren. Denn hier gibt es Bedarf.
„Beide Gemeinschaften hätten das allein nicht geschafft“, weiß Schwester Margareta. In Heiligenstadt hatten die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel und die Salesianer schon durch die Nähe des Jugendzentrums Villa Lampe zur Katholischen berufsbildenden Schule Bergschule St. Elisabeth kooperiert.
„Da will ich mitmachen“
„Als klar war, dass die Salesianer nach einem ausgelaufenen Projekt in Wannsee vor über zehn Jahren einen neuen Standort suchten und überlegten, aus dem ehemaligen Aussiedlerheim in Marzahn etwas zu machen, wusste ich sofort: Da will ich mitmachen“, blickt die frühere Berufsschullehrerin zurück. Dieses „Da will ich mitmachen“ ist auch ihren 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzumerken.
Ihnen geht es nicht um Karriere. „Gemeinsam wollen wir ein außergewöhnliches Projekt weiterentwickeln, für und vor allem mit jungen Menschen, die in ein sinnerfülltes Leben hineinfinden wollen“, sagt Schwester Margareta.
Wie ihr Stellvertreter Claudius Kießig, der vorher einen Kindergarten leitete, was ihm aber nicht reichte. Wie Grundschullehrerin Benedikta Reckers, die einen Großteil ihrer Dienstzeit ehrenamtlich leistet. Oder wie Tischlerin Sabine Lütke. Sie könnte in einem normalen Betrieb beschäftigt sein und zuverlässig Aufträge wegarbeiten – „aber ich wollte die soziale Ausrichtung damit kombinieren.“ Auch wenn es ihr die Jugendlichen nicht immer einfach machen.
Jugendliche wie die 17-jähjrige Steffi. Sie ist durch die schwere Krebs-Erkrankung ihrer Mutter völlig aus dem Tritt geraten. „Das Jobcenter hat mich hierher vermittelt. Ich will im Anschluss in die Berufsvorbereitung gehen und dann den Realschulabschluss schaffen.“ Ihr Berufsziel ist Maskenbildnerin. Und da dieser Beruf meist mit einem zweiten kombiniert ist, möchte sie zunächst das Frisörhandwerk erlernen. Klare Vorstellungen für eine 17-Jährige, die nach der Schule erst einmal gestrandet war und neues Vertrauen ins Leben braucht.
Ziele sind wichtig
„Diese Ziele sind ungemein wichtig“, weiß Schwester Margareta. „Viele unserer ehemaligen Jugendlichen haben es bis zum Ausbildungsabschluss und in Erwerbsarbeit geschafft. Auf der Grundlage von Angenommen-Sein und Wertschätzung – ohne das zu ignorieren, was der Umsteuerung bedarf – setzen sie sich Ziele. So bekommt ihr Leben Halt und Sinn.“
In diesem Sommer hat einer ihrer Schützlinge über den Blockunterricht an der katholischen berufsbildenden Bergschule in Heiligenstadt sogar die Fachoberschulreife geschafft und ein Studium aufgenommen. Auch er war einer von denen, die das Job-Center längst aufgegeben hatte. Dort sind sie als „Systemsprenger“ oder „Fallwanderer“ eingestuft. Demnach nicht mehr beschulbar.
Natürlich ist es bis zu solchen Erfolgen ein steiniger Weg. Das erfährt Jasmine Aust immer wieder. Oft blickt die Sozialpädagogin an den kalten Wintermorgenden in die müden Gesichter hinter den weißen Schwaden ihres feuchten Atems. Dann steht sie auf dem Parkplatz vor dem Bonifatius-Kleinbus und wartet darauf, dass die Jugendlichen sich zur Abfahrt in ein Oberstufenzentrum versammeln. Diese Schule eröffnet den Schulabbrechern die Chance auf eine Qualifikation, die dem Hauptschulabschluss gleichgestellt ist.
„Wenn eine schwere Arbeit ansteht, schwänzen immer einige“, weiß die Pädagogin, die aus Schwerte nach Berlin zog und hier nach einer herausfordernden Tätigkeit Ausschau hielt.
„Klar ist, dass diese Jugendlichen – egal zu welcher Maßnahme sie gehören – ganz viel individuelle, ehrliche Zuwendung benötigen“, erläutert Benedikta Reckers. Als Förderlehrerin hat sie höchstens vier Schüler vor sich sitzen und arbeitet mit ihnen die Defizite ganz gezielt auf. „In einer großen Klasse geht das nicht“, weiß sie aus Erfahrung. „Deshalb haben sich bei vielen von ihnen schon ganz früh Frusterlebnisse und tiefe Kränkungen angesammelt und sie zu Schulabbrechern werden lassen.“
„Toll, dass Du hier bist“
Tobias ist so ein Fall. Wenn er zur Nachhilfe am Schreibtisch von Benedikta Reckers erscheint, begrüßt sie den 17-Jährigen mit den Worten: „Dich habe ich ja lang nicht gesehen. Toll, dass Du hier bist.“ Sie fragt dann nicht, wo er die letzten Male gesteckt hat. Sie freut sich einfach, dass er den Weg hierher gefunden hat.
Tobias fühlte sich schon in der zweiten Klasse gemobbt: „Die Konrektorin, unsere Klassenlehrerin, hatte mich sofort auf dem Kieker“, erzählt er. Und meint: „Aus der Nummer kam ich nicht mehr ‚raus.“ Schon in der zweiten Klasse schloss er innerlich mit der Schule ab.
Er war nur froh, wenn er sie irgendwie umgehen konnte. Und das geht erschreckend leicht, weiß der Salesianer Stefan Eichele: „Wenn ein Schüler wochenlang nicht kommt, wird das Jugend- oder Ordnungsamt oftmals erst spät informiert.“ Denn nur wenige Lehrer würden den Störenfried wirklich vermissen.
Benedikta Reckers erklärt: „Wenn nicht klar ist, dass jeder in der Klasse seinen Platz hat, sind die Lernvoraussetzungen nicht gegeben.“ Hier in der Manege hingegen gebe es Platz für alle. Nicht nur im Unterricht. Ein Motto, das an Weihnachten besonders deutlich spürbar wird – und das schon vielen Jugendlichen neue Chancen eröffnet hat.