Spiritueller Impuls von Schulseelsorger Otmar Leibold
In einer Zeit tiefster Depression, Ratlosigkeit und Verzweiflung schreiben gläubige Juden im 6. vorchristlichen Jahrhunderts: „Die Erde war wüst und wirr.“ In dem Wort „wüst“ klingen „Wüste“ und „verwüstet“ mit. Das Wort „wirr“ lässt Bilder entstehen von „verwirrt sein“, „keine Orientierung mehr haben“, „Chaos“, „Unübersichtlichkeit“. „Die Erde war wüst und wirr.“ Das ist mehr als eine Naturbeschreibung, das ist der Seelenzustand der Zwangsdeportierten in Babylon.
Die Erzählung der Schöpfungsgeschichte bleibt nicht bei diesem diagnostischen Seelenbild stehen. Stattdessen wird in der Finsternis eine Stimme hörbar, ein Ruf, beinahe ein Befehl, im hebräischen Originaltext sind es lediglich zwei Worte gegen dieses unermessliche Ausmaß an Leid und Dunkel. „Es werde Licht“ Platz zum Widerspruch gibt es nicht, der hebräische Text fährt ohne Punkt und Komma fort mit der einfachen Feststellung: „… und es wurde Licht.“ Zwei Wörter genügen im Angesicht des tausendfachen Todes.
Das Wort Gottes kann die äußere Katastrophe nicht magisch abwenden, nicht Krieg Verbrechen oder Niedertracht. Aber es hat die Macht, dass die Seele angesichts der erlittenen Verletzungen, des erlittenen Verlustes, nicht zerbricht.
Auch die Feier der Osternacht beginnt im Dunkel. Kein Licht. Stille. Kein Gebet. Kein Gesang. Niemand findet ein Wort. Weil es angesichts dieser dunkelsten Finsternis, angesichts des millionenfachen Golgatha kein Menschenwort zu geben scheint, das wie ein Licht wäre, das Orientierung und Trost gibt.
Und dann doch: in die Finsternis hinein – oder aus der Finsternis heraus? – ein Ruf, wieder nur zwei Worte: „Lumen Christi“ – „Licht Christi“. Wir feiern in diesem Gottesdienst dieses Licht. Wir bekennen mit unserem kleinen Glauben, dass Gott Jesus nicht in der Finsternis zurückgelassen hat, dass er sein Leben und sein Leiden nicht vergessen hat.
Wir können in diesem Jahr das Lumen Christi nicht in die dunkle Kirche hineinsingen. Aber wir können es in unseren Häusern singen. Wir können unsere Kerzen anzünden gegen das Dunkel der Angst und Einsamkeit, weil wir darauf vertrauen, dass Gottes Licht in die letzte Finsternis des Menschen scheint, hinein in die Isolation, Angst, Verunsicherung und Verzweiflung, die die Corona Pandemie mit sich bringt.
Otmar Leibold, Schulseelsorger Engelsburg-Gymnasium Kassel