Stadtteilzentren der Ordensgemeinschaft helfen den armen Menschen in den Vierteln am Rand von Leme in Brasilien, neue Perspektiven zu finden
Wie viele brasilianische Städte besteht der 100.000 Einwohner-Ort Leme aus zwei Welten: Einer eher wohlhabenden Innenstadt und einem breiten Gürtel armer Viertel an den Rändern. Hier leben Erntehelfer und Arbeitslose, Drogendealer und Drogenkonsumenten, alleinerziehende Mütter und alkoholkranke Männer auf engem Raum zusammen. Hier lebt auch Janete. Wie ihr versuchen die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel mit ihren Bildungsangeboten den Kreislauf der Armut zu durchbrechen. Janete nahm die Hilfe an – und hat wieder Träume.
Stolz hält die 21-jährige Janete ihre Anmeldung für die Escola Tecnica in den Händen. Sie hat es geschafft: Hier wird sie eine Berufsausbildung zur Verwaltungsfachkraft machen, um danach vielleicht Psychologie zu studieren. Diesem Traum ist sie heute einen Schritt näher gekommen. Die Aufnahmeprüfung, für die sie in den letzten Wochen viel gelernt hatte, hat sie bestanden.
Berufsschule schien unerreichbar
Vor einigen Jahren hätte Janete noch nicht einmal von der Anmeldung für die Escola Tecnica zu träumen gewagt. „Die schien für mich unendlich weit weg“, erklärt sie. Denn ihre Familie ist arm. Und die weiterführenden Schulen seien doch nur etwas für die Reichen, hat sie gemeint. Tatsächlich verläuft in Brasilien zwischen Arm und Reich ein tiefer Graben. In der Stadt Leme mit seinen knapp über 100.000 Einwohnern ist das sichtbar und spürbar: Die Viertel der Wohlhabenden befinden sich im Nordwesten der Stadt. Große Grundstücke mit hohen Mauern und eigenen Wachdiensten, die durch die Straßen fahren. Die Armen wohnen in den Vierteln wie dem Imperial, wo auch Janetes Familie in einem eingezwängten Häuschen auf 36 Quadratmetern lebt.
Die Situation der Familie Eleolerio ist typisch für dieses Viertel. Der Vater ist Alkoholiker und hat seine Frau geschlagen. Schließlich zog er aus. Janetes 14-jähriger Bruder Gabriel hatte Leukämie. Dass man im staatlichen Gesundheitssystem gute Ärzte findet und angemessen behandelt wird, ist eher die Ausnahme. Gabriel hatte Glück, überstand die Krankheit, kämpft aber noch immer mit großen Lernschwierigkeiten. Jordania, die jüngere, 18-jährige Schwester, leidet unter psychischen Problemen. Janaina, die älteste Schwester, lebt nicht mehr im Haus. Sie arbeitet als Lieferantin für ein Schnellrestaurant.
+ Lernen in der kleinen Küche
Lernen muss Janete in der kleinen Küche, wo sich tagsüber das Leben der Familie abspielt. Nebenan gibt es nur das Schlafzimmer mit den vier eng aneinander stehenden Betten und auf der anderen Seite das kleine Bad. Immerhin: Die Wände sind verputzt. Ein Pate aus der Pfarrgemeinde hat der Familie das kleine Häuschen finanziert. Der Zusammenhalt der Menschen in diesen Viertel funktioniert – so unterschiedlich ihre Probleme und Situationen auch sind.
Vom Nachbarn dröhnt laute Musik herüber. Die Bässe bringen den Kühlschrank zum Vibrieren. Auf dem Röhrenbildschirm des in die Jahre gekommenen Computers auf dem winzigen Schreibtisch leuchtet der Bildschirmschoner eines veralteten Betriebssystems. Aber ins Internet gehen Janete und ihre Geschwister ohnehin fast nur mit dem Smartphone. Dies ist das wichtigste Kommunikationsmittel im Viertel, das sonst kaum Treffpunkte bietet.
An den Wänden hängen zwei große Portraits von Janete und ihrer älteren Schwester bei der Abschlussfeier an ihrer Schule. Mutter Cirlene ist stolz darauf, dass sie ihre Kinder soweit gebracht hat. „Bis zum Schulabschluss kommen hier die Wenigsten“, weiß die deutsche Entwicklungshelferin und Sozialarbeiterin Sabine Stephan. Deshalb weiß sie auch, dass es sich lohnt, dieser Familie unter die Arme zu reifen. „Sie tut viel dafür, ihre Situation zu verbessern.“ Gerade ist sie vorbeigekommen, um Janetes Mutter die Hälfte der Anmeldegebühr für die Escola Tecnica zu erstatten. Diese 30 Real – umgerechnet neun Euro – sind für viele Familien kaum finanzierbar.
+ Soziale Zentren in den Stadtteilen schaffen
Sabine Stephan arbeitet seit Anfang 2016 als Entwicklungshelferin in der Stadtrandarbeit der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel. In den nächsten Tagen kehrt die 57-Jährige wieder nach Deutschland zurück. Mehr dazu hier »
Nach vielen Jahren als Leiterin eines Weiterbildungszentrums im Eichsfeld hat sie gegen Ende ihres Berufslebens noch einmal etwas Anderes machen wollen. Die Arbeit der Schwestern in Leme hatte sie zuvor während eines Sabbatjahres kennengelernt. „Ich sah, dass es hier viel zu tun gibt und hatte auch Ideen, was man ändern kann.“ Als die Ordensgemeinschaft die ersten Stadtteilzentren plante, um darin Kurse anzubieten, hat sie das Konzept mitentwickelt.
Cirlene hat in einem dieser Zentren vor kurzem zum Beispiel eine berufliche Weiterbildung zur Hotelfachkraft absolviert. Dabei hat sie zum ersten Mal ein Hotel von innen gesehen. Nun hofft sie, in diesem Bereich einen kleinen Job zu bekommen. Bisher verdiente sie ihr Geld immer nur mit Gelegenheitsjobs.
Viele Berufsausbildungen werden in Brasilien in derartigen Modulen mit nur 30 oder 50 Stunden Umfang angeboten. Selten bekommt man allein damit eine Anstellung. „Aber sie sind wichtig, um Jugendlichen und Erwachsenen Selbstvertrauen zu vermitteln, sie wieder ans Lernen heranzuführen und neu zu motivieren“, weiß Schwester Aurora Tenfen. Die 48-jährige leitet die brasilianische Ordensprovinz der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel. Ihr ist die Weiterentwicklung der sozialen Zentren ein Herzensanliegen. In diesem Herbst hat das fünfte dieser Zentren mit Kursräumen und überdachtem Sportplatz eröffnet.
„Bisher laufen die Kurse gut. Auch, weil wir viele ehrenamtliche Lehrer haben, denen die Situation dieser Familien nicht egal ist“, freut sich Schwester Aurora. Und weil es sogar elf Psychologen gibt, die ihre Dienste am späten Nachmittag und am Abend ehrenamtlich anbieten, erfahren die jüngeren Geschwister von Janete endlich eine fachgerechte Betreuung.
Janete hatte zuerst einen Gitarrenkurs besucht. „Der war wichtig für mein Selbstvertrauen“, verrät die zierliche, nur 1,48 Meter große, junge Frau. Dann absolvierte sie eine Weiterbildung zur Verwaltungskraft. Mit dem könnte sie als Sekretärin arbeiten. Und zugleich war dieser Kurs schon eine erste Vorbereitung auf die Escola Tecnica.
Jetzt arbeitet sie halbtags in einem kleinen Laden, wo es vor allem für Tierbedarf zu kaufen gibt. Der gehört einem befreundeten Ehepaar, das Janete durch ihr Engagement in der Pfarrgemeinde kennt. Es zahlt ihr 300 Real im Monat. Das sind umgerechnet knapp 80 Euro. Die Idee, das Geld für sich zu behalten und von zu Hause auszuziehen, liegt Janete fern. Im Gegenteil: „Meine Mutter hat alles getan, dass ich die Schule abschließen kann. Ich bin glücklich, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, etwas davon zurückzugeben.“
+ Die Wirtschaftskrise macht sich bemerkbar
Viel ist in dem Laden allerdings nicht zu tun. Brasiliens Wirtschaftskrise wird hier spürbar. Am Samstagmorgen zählt Janete gerade einmal zwölf Kunden. Hinter der 1,20 Meter großen Ladentheke wirkt sie fast etwas verloren. Doch wenn Kunden kommen, tritt sie hervor und lächelt sie freundlich an. An der Decke baumeln Vogelkäfige. Neben den vielen Fächern mit dem Futter, vor allem für Hunde, Katzen und Vögel, gibt es auch ein Regal mit Reinigungsmitteln. „Ich nehme mir eine Flasche“, ruft ihr eine ältere Frau zu, greift danach und verschwindet sogleich. Janete schreibt es an. Sie erklärt: „Meist bezahlen diese Kunden am Ende des Monats. Nicht immer. Aber wir können es uns nicht leisten, auf sie zu verzichten.“
Noch selbstsicher wirkt Janete, wenn sie in der kleinen Kirche Maria Madalena Postel, die von der Ordensgemeinschaft erbaut worden ist, Katechese und Pastoralarbeit macht. Am Samstagnachmittag leitet sie eine kleine Gruppe von Kommunionkindern. Ausführlich und geduldig erklärt sie ihnen den Rosenkranz. Direkt im Anschluss hilft sie in einem Recinglage-Kurs mit, wo Kinder kreativ mit Abfällen arbeiten und daraus neues Spielzeug herstellen. So wird aus einer Milchtüte und etwas Pappe zum Beispiel eine Frosch-Handpuppe, die den Mund öffnen kann. Und nebenbei erfahren die Kinder auch noch, wie wichtig Umweltschutz ist.
Im Gottesdienst am Sonntagmorgen führt Janete eine Gruppe von Kindern zum Altar, die sich dort um die geschmückte schwarze Madonna von Aparecida versammelt. Sie ist die Nationalheilige Brasiliens. „Viva Maria!“, ruft der Gottesdienstleiter. Die Gemeinde jubelt. Und die Kinder sind mit großem Eifer dabei, die Figur vor dem Altar mit Rosenblättern zu bestreuen. Janete dirigiert die Gruppe gekonnt. „Die Arbeit in der Katechese und Pastoralarbeit bedeutet mir viel. Sie gibt mir Halt“, sagt die 21-Jährige, die kaum größer ist als die Kinder. Hier aber wächst sie ein bisschen über sich hinaus.
+ Auf der Suche nach Gott
Inzwischen ist die katholische Kirche bei den Sonntagsgottesdiensten wieder gut gefüllt. Das war in den zurückliegenden Jahren nicht immer so. Denn mittlerweile gibt es in den Vierteln viele evangelikale Kleingemeinden, die mit emotionaler Ansprache und lautstarken Versprechungen um die Gläubigen konkurrieren. Doch Fernando Leme, der an diesem Sonntagmorgen über den dreifaltigen Gott als Familie predigt, versteht es auch, die Leute anzusprechen.
Er ist einer von ihnen. Werktags fährt er Bus, am Sonntag hält er den Gottesdienst: „Hier sind alle auf der Suche nach Gott. Und nicht wenige wenden sich von der katholischen Kirche ab, weil sie ihn hier nicht finden. Aber wenn sie merken, dass die Versprechungen der evangelikalen Prediger auch nicht in Erfüllung gehen, kommen sie zurück“ stellt er mit Genugtuung fest.
Mit Leuten wie Fernando Leme arbeiten die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel gut zusammen. Schwieriger ist es mit den Priestern aus den wohlhabenden Gemeinden der Innenstadt. Sie sammeln in ihren Gottesdiensten zwar gelegentlich für die bedürftigen am Stadtrand Geld, doch engagieren sie sich dort nicht. Schwester Aurora bezeichnet sie als „Priester der Sakristei.“ Auch in der Kirche wird die Spaltung der Gesellschaft deutlich.
Leme hat seine Einwohnerzahl während der zurückliegenden fünf Jahrzehnte auf mittlerweile über 100.000 mehr als verdoppelt. In den armen Vierteln am Rand leben vor allem Familien, die vom Land in die Stadt gezogen sind. Erntemaschinen ersetzen auf den Feldern ihre Arbeitskraft. Doch Leme bietet ihnen nicht viel Perspektiven. Auch hier arbeiten die meisten Menschen ohne qualifizierte Schulabschlüsse noch weit außerhalb auf den Plantagen, oft bei der Orangenernte. Früh morgens ab fünf werden sie mit den Bussen zu den teilweise weit entfernten Betrieben gebracht, abends sind sie vor sechs oder sieben nicht wieder zurück.
+ Drogendealen ist attraktiver als Arbeiten
Wer mit weniger Arbeit mehr Geld verdienen will, der beginnt mit Drogen zu dealen. Das sei ganz einfach, verrät Idilem, der dabei erwischt wurde und nun im Nutzgarten der Ordensgemeinschaft Sozialstunden ableisten muss. „Du musst nur wissen, wo die Autos halten, wo Du gefragt wirst, ob Du ein Paket mit Creck auf den Markt bringen willst“, erzählt er. Darin befinden sich 28 Säckchen. 20 muss er für den Händler verkaufen, acht darf er selbst behalten. Das ist sein Verdienst. Und der kann an einem Wochenende bis zu 200 Real betragen.
Inzwischen bereut Idilem seine Tat. Auch, weil er in dem Sozialprojekt der Schwestern zum ersten Mal Menschen um sich herum habe, die ihm guttun. Die Drogen hat der 16-Jährige genau in dem Viertel verkauft, in dem Janete mit ihrer Familie lebt.
Die 21-Jährige will ihr Geld ehrlich verdienen. Sie ist entschlossen, dafür zu lernen und zu studieren. Und sie will Gutes tun: „Wenn ich einmal Psychologin bin“, sagt sie – und dann kehrt wieder dieses selbstbewusste Lächeln zurück –, „dann will ich einmal für die Menschen in diesem Viertel da sein. Ich sehe, wie sehr die psychologische Begleitung meiner Schwester und meinem Bruder guttut. Ich möchte die Fähigkeiten haben, anderen zu helfen.“
Janetes Traum ist nicht ein Haus in der Innenstadt. Ihr Traum ist es, hier im Stadtviertel Imperial für die Menschen da zu sein. Vielleicht auch einmal in den sozialen Zentren der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel.
Reportage im kontinente-Magazin
In der Ausgabe 1-2019 des Missionsmagazins kontinente befindet sich eine große Reportage über die Stadtrandarbeit der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel, gezeigt am Beispiel von Janete und ihrer Familie. Das E-Paper finden Sie hier.
Ein Jahresabonnement des Heftes für sechs Ausgaben kostet nur 14,95 Euro.
In Zusammenarbeit mit dem Fotografen Florian Kopp ist auch ein Film über das Leben von Janete entstanden, der zeigt, welche Hilfsangebote der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel ihr auf ihrem Weg in ein selbstständiges Leben geholfen haben und helfen: