Altbischof Dr. Joachim Wanke stellte beim Placida-Empfang aktuelle Bedeutung der Barmherzigkeit heraus
Der emeritierte Diözesanbischof des Bistums Erfurt, Dr. Joachim Wanke, rückte den „verstaubt“ anmutenden Begriff der Barmherzigkeit in seinem Vortrag beim Placida-Empfang am Dienstagabend im Bergkloster Heiligenstadt in die Gegenwart. Er betonte seine Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, gerade auch vor dem Hintergrund der Zuwanderung zahlreicher Flüchtlinge, und mahnte: „Ihre Situation erfordert Barmherzigkeit. Als Christen sind wir auf den Prüfstand gestellt. Das ist der eigentliche Kampf um die Bewahrung des christlichen Abendlandes.“
Damit spielte er ebenso auf die jüngsten Wahlerfolge der AfD wie auf die PEGIDA-Demonstrationen an, die gerne die „Gefährdung der abendländischen Kultur“ propagierten. Dort werde das Thema für eine Ideologie missbraucht: „Ideologie verallgemeinert immer: ‚Die Juden‘. ‚Die Flüchtlinge‘. ‚Die Kapitalisten‘. Die Barmherzigkeit wendet sich aber Einzelnen zu.“ Da reiche nicht der Ruf nach dem Staat. Hier komme es auf uns selber an.
150 Gäste in der Schulaula
Vor den rund 150 Gästen in der Aula des Gymnasiums und der berufsbildenden Schule Bergschule St. Elisabeth zeigte Bischof Wanke anhand dieser aktuellen Problematik zwei strukturelle bzw. sozial-ethische Spannungsbögen auf: Zum einen zwischen professioneller Hilfe und ehrenamtlichen Engagement, zum anderen der nach einer Forderung von Gerechtigkeit für alle und der Notwendigkeit von Barmherzigkeit im Einzelfall.
Barmherzigkeit habe aber kaum Konjunktur: „Das Schlüsselwort des heutigen gesellschaftlichen Grundgefühls lautet: Gerechtigkeit.“ Viele beharrten auf ihre Rechte und das, was ihnen gesetzlich zusteht. Freilich räumte Wanke ein, dass es ohne Gesetze nicht geht: „Die Grundrechte müssen in einem Staat gesichert werden.“
Aber er mahnte auch: „Allein durch Paragraphen wird unsere Gesellschaft nicht menschlicher. Man stelle sich nur eine Welt vor, in der alles staatlich geregelt ist. Das ist eine Horrorvision, wie sie George Orwell beschreibt.“ Neben der Gerechtigkeit brauche es deshalb Erbarmen und Liebe, die dem Nächsten einfach guttun wolle, auch wenn dafür keine Belohnung ausgesetzt sei: „Gerechtigkeit kann man einfordern. Barmherzigkeit nicht.“
Ähnlich sei die Spannung zwischen hauptberuflicher Fürsorge und ehrenamtlichem Engagement. Natürlich käme ein Sozialstaat ohne Professionalität nicht aus. Auch das zeige die Umgang mit den Flüchtlingen: „Mit der Erstbetreuung der Flüchtlinge sind die Behörden allein überfordert. Und das sind sie auch bei der langfristigen Integration der Zugewanderten in unser Lebensumfeld.“ Die Verteilung der Asylbewerber und die Bearbeitung der Asylanträge müsse aber vom Staat geleistet werden.
„Ehrenamt sorgt dafür, dass das Blut zirkuliert“
Beides bedinge sich einander: „Das Ehrenamt ist ein belebendes Element für berufliche Professionalität und sorgt dafür, dass das Blut zirkuliert. Es sorgt immer für die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.“ Wanke betonte: „Der Sozialstaat braucht das ehrenamtliche Engagement aus seiner Mitte heraus.“
Wie groß die Gefahr sei, sich an professionelle Strukturen zu gewöhnen, zeige die Entwicklung unserer Bestattungskultur: „In einer Welt ohne Bestattungsinstitute war es ein Werk der Barmherzigkeit, Tote zu begraben. Aus einem Werk der Barmherzigkeit wurde später dann eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Inzwischen ist es angesichts der hohen Kosten einer Beerdigung schon wieder ein Werk der Barmherzigkeit, auch für Hartz-IV Empfänger ein würdiges und erschwingliches Begräbnis auszurichten.“ So müsse sich die Gesellschaft immer wieder neu für solche Entwicklungen sensibilisieren, teilweise auch gegensteuern: durch soziales, ehrenamtliches Engagement. Durch Barmherzigkeit.
Der Gottesglaube bilde dafür ein solides, tragfähiges Fundament. Der Altbischof machte dies an fünf Punkten fest: „Ohne die Mahnung Jesu könnten wir vergessen, dass zu jeder Not immer ein konkretes menschliches Gesicht gehört.“ Sein Vorbild bewahre uns, in Schubladen, also ideologisch zu denken.
Ohne die eigene Verankerung in Gottes Liebe würde uns angesichts der vielgestaltigen Not in der Welt schnell der Atem zum Helfen ausgehen. „Und ohne eigene Gottesberührung könnte es sein, dass der Umgang mit fremdem Leid uns selbst zunehmend hart und mitleidsunfähig macht.“
Helfen auch ohne Anerkennung
Zudem sei die „ungeschuldete Zuwendung“ Gottes ein wichtiges Signal, selbst nicht sauer und ungenießbar zu werden: „Vor allem dann, wenn unsere Hilfsbemühungen kaum Erfolge bringen oder dafür gesellschaftliche Anerkennung und öffentliche Belobigung ausfallen.“ Und als letzten Grund nannte der die im Christentum verankerte Befähigung zur Feindesliebe: „Ohne Gott ist es vermutlich – ich formuliere sehr vorsichtig – ganz unmöglich, für unleidliche, feindselige Menschen Gutes zu erbitten oder ihnen gar Gutes zu tun.“
Bischof Wanke ermunterte dazu, diese Argumente in Diskussionen deutlicher zu nennen. „Zwar wird das nicht reichen, dass ein Agnostiker gläubig wird.“ Aber er werde die Beweggründe ebenso anerkennen, wie Christen auch das Engagement jener Menschen anerkennen müssten, die aus humanistischen Motiven heraus Gutes täten.
„Die Bereitschaft, selbst anderen gegenüber barmherzig zu handeln, hat dort eine Chance, wo ich selbst am eigenen Leibe einmal Barmherzigkeit erfahren habe“, erklärte der Bischof. Und er fügte hinzu: „Barmherzigkeit erlernt man nicht – man erfährt sie.“
Wo christliche Religiosität Hass, Unmenschlichkeit, Erbarmungslosigkeit, brutalen Egoismus produziere, schlage sie der Intention der Gebote Gottes ins Gesicht. Wanke schloss mit der Frage: „Ohne selbst barmherzig zu werden, können wir dem barmherzigen Gott und Vater Jesu Christi nicht gefallen. Ist das nicht auch ein Handlungskriterium für die Kirche und ihre Seelsorge heute?“
Kern der Spiritualität offengelegt
Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow, die den Altbischof fast auf den Tag genau 65 Jahre nach der Seligsprechung Placida Viels nach Heiligenstadt eingeladen hatte, dankte ihm für seine Gedanken: „Sie passen nicht nur gut in das Jahr der Barmherzigkeit, sondern auch zu unserem Gedenkjahr an Placida Viel, der deutschen Ordensgründerin. Denn auch sie hat Grenzen überwunden. Aus sich hinauszugehen und Grenzen des eigenen Tuns zu überschreiben, sei ein Wesen der Barmherzigkeit.“
Ursprünglich hatte die Gemeinschaft den Begriff als „Arme Schwestern von der Barmherzigkeit“ sogar in ihrem Namen getragen. Und so habe der Vortrag von Altbischof Dr. Joachim Wanke zugleich den Kern der Spiritualität der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel beschrieben.
Dass der Vortrag viele Gedanken in Bewegung setzte, zeigte sich auch bei der anschließenden Begegnung im Thomas Morus-Saal des Bergklosters. Dort dauerten die Gespräche noch bis in den späten Abend an.