Von Ulrike Annas
Es war kurz nach Neun, ich ging mit blütenweißen Klammotten, durch die verwitterte Gartentür zu Frau Reis in den Hof. Luna, der Hund sprang mich schwanzwedelnd an.
Meine Hose war nicht mehr weiß.
Frau Reis stand in Kittelschürze und Gummistiefeln im Hof und reichte mir zum Gruß ihre brombeerverschmierte Hand. Artig schlug ich ein.
Ich klebte.
„Probieren Sie mal Schwester, ich habe gerade frische Brombeeren gepflückt.“
Sie putzte sich mit einem verschnieften Stofftaschentuch ihre verschwitzte Stirn ab und reichte mir mit derselben Hand eine dicke Brombeere.
„Danke“, sagte ich und aß sie.
Genießen konnte ich sie nicht so recht.
Aber die alte Dame war so stolz auf ihren Eimer voller Früchte und ich wollte nicht unhöflich wirken. Nachdem ich eine Stunde lang die Wohnung sauber gemacht hatte, zeigte sie mir sämtliche Gläser eingemachten Gelees.
Natürlich Brombeere.
Sie drehte den Deckel eines schon mit Butter verschmierten Glases ab, tauchte einen Löffel hinein und leckte ihn genüsslich ab. Sie lächelte mich mit ihrem fast zahnlosen Lächeln an.
Einen schwarzverfärbten Zahn hatte sie noch.
Ihr Mund war beschmiert mit Brombeermarmelade. Frau Reis tauchte den Löffel erneut ins Glas und ehe ich mich versah, hatte auch ich ihn im Mund.
Mir wurde leicht übel.
„Lecker, oder etwa nicht? Habe ich selbst gemacht nach dem Rezept von meiner Großmutter“, sagte sie mir glücklich.
„Hervorragend!“, presste ich zwischen den Zähnen hervor und schluckte mutig alles hinunter. Am liebsten hätte ich sie um einen Schnaps gebeten, aber ich war ja im Dienst.
Im Hinausgehen bemerkte ich einen dicken roten Fleck auf meinem T-Shirt.
Ich hasse Brombeeren.
In Nassau angekommen, schlich ich mich ins Büro, in der Hoffnung, von niemandem gesehen zu werden. Auf unser äußerliches Erscheinungsbild wird großen Wert gelegt. Leider entsprach ich diesem nicht: Hundepfoten auf der Hose und Brombeerflecken auf dem T-Shirt – ich glich eher „Meister Klecksel“.
Im Büro herrschte großes Gelächter, als ich eintraf. Eine Kollegin bemerkte grinsend: „Das war bestimmt Luna“ und deutete auf meine fleckige Hose.
„Genau. Und das war Frau Reis“, sagte ich und zeigte auf mein besudeltes T-Shirt.
Oh du fröhliche, oh du selige Brombeerzeit!
Ulrike Annas arbeitet beim Ambulanten Dienst am Marienkrankenhaus in Nassau. Mit diesem Beitrag hat sie den 1. Platz im Schreibwettbewerb der Seniorenhilfe SMMP erreicht.