Sr. Gertraude Brinkmöller gehört seit über 70 Jahren der Gemeinschaft an und arbeitet bis heute deren Geschichte auf
„Früher war ich hier das Büro“, blickt Schwester Gertraude Brinkmöller auf ihr über 70jähriges Berufsleben im Bergkloster Heiligenstadt zurück. Das Büro erlebte den Nationalsozialismus mit, den Zweiten Weltkrieg, den „demokratischen Sozialismus“ in der DDR und schließlich die Wende. Das Büro führte die Buchhaltung während dieser Jahrzehnte in vier verschiedenen Währungen. Die letzte Bilanz erstellte es nach der Rückverlegung des Generalats 2003 mit der Einführung des Euros. Erst dann übernahm die neue Generalleitung das Ruder. Aber bis heute erfasst Schwester Gertraude alte Texte für die Chronik der Gemeinschaft, sichtet Fotos, stellt Alben zusammen. Inzwischen ist sie 99 Jahre alt und die älteste Ordensfrau bei den Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel.
1920 wurde das Bergkloster in Heiligenstadt erstmals Generalat des damals von den französischen Schwestern getrennten deutschen Ordenszweiges. Nur 15 Jahre später trat die gebürtige Bad Driburgerin in die Gemeinschaft ein. Seitdem ist ihre Biografie mit der Geschichte der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel in Deutschland eng verwoben. Inzwischen löst sie ihre geliebten Kreuzworträtsel im Rollstuhl. Und auch ihr linkes Ohr will nicht mehr so recht hören. Doch geistig ist die Ordensfrau noch hellwach. Deshalb macht es ihr auch nichts aus, den Computer selbst hochzufahren, daran Texte zu erfassen, zu formatieren und abzuspeichern. „Den ersten Rechner hatten wir hier kurz nach der Wende bekommen. Ich hatte damals eine Mitarbeiterin, die mich da einführen wollte. Ich wollte schon aufgegeben. Aber dann habe ich mir gedacht: Das willst Du doch noch lernen.“ Und das tat sie dann auch.
Inzwischen hat das Gerät genauso viele Generationen neuer Rechner überlebt wie Schwester Gertraude schon Menschengenerationen hat kommen und gehen sehen. Vielleicht passen der fast 20 Jahre alte Rechner und die 99-jährige Ordensfrau deshalb so gut zusammen. „Wir vertragen uns ganz gut“, sagt sie schmunzelnd. Auch wenn die „Kiste“ manchmal Zicken mache. Dann müsse Schwester Theresia, die heutige Generalsekretärin, eben mal vorbeikommen und ihr weiterhelfen. Aber einen noch neueren Computer will sie jetzt nicht mehr haben: „So etwas neumodisches brauche ich für meine Arbeit nicht.“
Zu Kaiserzeiten geboren
Noch zu Kaiserzeiten erblickte Schwester Gertraude im westfälischen Bad Driburg das Licht der Welt. Während des Ersten Weltkriegs wurde sie eingeschult. In Geseke besuchte sie später die Handelsklasse des Lyzeums. Dort unterrichteten die Heiligenstädter Schulschwestern, wie der Orden zu dieser Zeit noch hieß. Die Gemeinschaft hatte das Haus erst Anfang der 20er Jahre errichtet. „Als ich dorthin kam, war es noch nicht verputzt“, erinnert sich Schwester Gertraude. Aber abgesehen von diesem Umstand hinterließen die Schwestern bei ihr einen so starken Eindruck, dass ihr Entschluss feststand, bald nach dem Abschluss ihrer Berufsausbildung dort einzutreten. Das tat sie 1935 in Heilgenstadt.
Schwester Gertraude gehörte damals zu dem ersten Jahrgang, der ein zweijähriges Noviziat zu absolvieren hatte. Bis dahin war es ein Jahr gewesen. „Und im zweiten Jahr kamen wir alle auf unsere Posten“, erinnert sie sich. Das war für sie die ordenseigene Schule in Lippstadt. Dort arbeitete sie in der Verwaltung.
Der Konvent in Lippstadt war 1897 gegründet worden. Und er bestand bis 1938. Dann blieb den Schwestern nichts anderes übrig, als dem Befehl der Nazis zu folgen und die Schule zu schließen. „Die Nachricht erreichte uns am Karfreitag. Die Oberin hatte uns nach dem Gottesdienst auf ihr Zimmer gerufen. Und so kam ich einige Tage später wieder nach Heiligenstadt.“
Noch gut in Erinnerung ist ihr ein drei Mal vier Meter großes Wandgemälde in der Kirche, das Maria Magdalena Postel im Kreise ihrer Schülerinnen zeigt. Aber nach dem Krieg war das Gebäude stark beschädigt. Und später wurde es umgewidmet. Erst vor wenigen Jahren gab es einen weiteren Umbau des früheren Gotteshauses zu einem Vortragsraum. Und dabei entdeckten die Maler unter dem Putz das überstrichene Gemälde. „Ich dachte, das sei längst zerstört. Aber als ich davon erfuhr, dass es wieder freigelegt und restauriert worden sei, wollte ich es unbedingt sehen“, erzählt Schwester Gertraude noch immer bewegt. Als sie 2008 an Exerzitien im Bergkloster Bestwig teilnahm, fuhr Provinzoberin Schwester Pia Elisabeth Hellrung von dort aus gemeinsam mit ihr nach Lippstadt: „Und ich war begeistert, wie schön dieses Bild wieder erstrahlte. Eigentlich genauso, wie ich es in Erinnerung hatte.“
Erinnerung an aufgenommene Flüchtlinge
Genauso klar hat Schwester Getraude noch viele andere Erlebnisse und Epochen der Gemeinschaft in Erinnerung – in Heiligenstadt nennen sie einige Schwestern deshalb auch das „lebende Archiv“.
Zum Beispiel den Zweiten Weltkrieg. „Von Bombenangriffen blieben wir hier ja weitgehend verschont. Aber im Kloster haben wir jede Menge Flüchtlinge aus dem Osten aufgenommen. Und auch Soldaten oder Verletzte. Die Räume der Bergschule, die wir schließen mussten, standen ja frei“, blickt Schwester Gertraude zurück. Hunderte von Menschen fanden hier 1944/1945 vorübergehend eine Bleibe.
Oder die Phase des Wiederaufbaus in der DDR. Dabei nahm der Bergkindergarten als eine der ganz wenigen katholischen Kindertagesstätten in der DDR schon bald wieder seinen Betrieb auf. Während der gesamten Zeit wurde die Einrichtung durchgehend von rund 200 Kindern besucht. „Da hatten wir das Glück, dass der russische Offizier, der hier in den ersten Nachkriegsjahren während der Besatzung das Sagen hatte, schnell eingewilligt hat. Er meinte nur, die Kinder müssen möglichst schnell von der Straße“, berichtet Schwester Gertraude.
Von 1950 an übernahm sie dann die Aufgaben der Provinzökonomin. Zwar wurde das Eichsfeld faktisch erst 1966 von der westdeutsche Provinz getrennt, doch organisatorisch mussten die Niederlassungen auf den beiden Seiten der innerdeutschen Grenze schon viele Jahre vorher autark funktionieren. Dabei regelte Schwester Gertraude die finanziellen Angelegenheiten für den ostdeutschen Teil. In dieser Phase war sie auch Geschäftsführerin der Gesellschaft für christliche Schulen in der Diözese Erfurt.
In Heiligenstadt durfte das Gymnasium der Bergschule St. Elisabeth zwar erst nach 1990 wieder errichtet werden, jedoch war die Keimzelle für den Wiederaufbau der Schulen schon mit dem Erzieherinnenseminar angelegt, das Schwester Pia Elisabeth aufgebaut hatte. Dort wurden junge Frauen für ihre berufliche Tätigkeit in den katholischen Kindergärten des Eichsfeldes ausgebildet. In staatlichen Einrichtungen hatten die nicht arbeiten dürfen.
Die ursprüngliche Haushaltungsschule hatte man 1955 schließen müssen. „Von da an durften wir keine Schülerinnen mehr aus dem direkten Umkreis aufnehmen. Also machte es keinen Sinn mehr, sie weiter zu betreiben“, erklärt das „wandelnde Archiv“. Die Schwestern, die – auch an anderen Schulen – als Lehrerinnen arbeiteten, wurden nach und nach von den DDR-Behörden aus dem Dienst gezogen. „Viele gingen daraufhin in die Mission“, sagt Schwester Gertraude.
Umso mehr freut sie, dass sie in Heiligenstadt auch die „Wende“ und den Wiederaufbau der Bergschulen miterleben durfte: „Auch das war noch einmal eine spannende Phase.“ Mit der Wende kam die D-Mark, und einige Jahre später der Euro. So hat die 99-Jährige insgesamt fünf Währungen miterlebt. Auch die große Inflation nach dem Ersten Weltkrieg: „Mein Vater hatte einen Laden. Abends haben wir immer die Einnahmen gezählt. Da lagen Billionen von Reichsmark auf dem Tisch – Stapel von Geldscheinen. Und was bekam man dann dafür? So gut wie nichts…“
Übersetzerin alter Handschriften
Ab und zu fühlt sie sich heute noch einmal in ihre Jugend zurückversetzt: Etwa, wenn sie die handgeschriebene Briefe von Schwester Maria Aegedia Hartmann aus den Jahren 1924 bis 1928 erfasst. Schwester Maria Aegidia hatte damals die Missionsarbeit in Bolivien aufgebaut. Ihre altdeutsche Handschrift kann heute kaum noch jemand entziffern – außer Schwester Gertraude, denn die kann Sütterlin lesen. Über welche Epochen sie zurückblicken kann, wird einem bewusst, wenn man sie fragt, ob sie auch noch Sütterlin in der Schule gelernt hat: „Sütterlin? Nein, das kam doch erst Ende der 20er Jahre. Da war ich mit der Schule schon fertig.“