Rita Süssmuth besucht Haus St. Josef und wirbt beim Expertenforum in Wadersloh vor mehr als 300 Zuhörern angesichts des demografischen Wandels für einen Bewusstseinswandel
„Es macht keinen Sinn, politisch heikle Themen wie den demografischen Wandel und seine Folgen vor sich herzuschieben. Die Menschen denken über ihre Zukunft viel mehr nach als wir uns das in der Politik oft eingestehen.“ Mit diesem Satz erntete die ehemalige Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth beim Expertenforum zum demografischen Wandel in Wadersloh von den Zuhörern viel Applaus. Und vor diesem Hintergrund lobte sie das Engagement des Hauses St. Josef und seiner Gesellschafter, die brennenden Fragen zu thematisieren und durch die innovative Konzeption der Einrichtung auch schon erste Antworten auf diese Fragen zu geben.
Zum ersten Mal seit 23 Jahren kam Rita Süssmuth an diesem Donnerstag an den Ort zurück, in dem sie die ersten zwölf Jahre ihrer Kindheit verbrachte. Deshalb hatte sie sich auch bereit erklärt, die Schirmherrschaft über das neu gebaute Seniorenheim zu übernehmen, das sie am Mittag eine Stunde lang besuchte.
Das hatten die Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel (SMMP) und die Pfarrgemeinde St. Margaretha als Gesellschafter der Seniorenhilfe St. Josef in Wadersloh zum Anlass genommen, anschließend zu einem Expertenforum einzuladen. Thema: Der demografische Wandel, die Herausforderungen, Perspektiven und Chancen in der Pflege und Betreuung.
An dieser Diskussion unter Leitung von ARD-Moderatorin Claudia Kleinert nahmen neben Rita Süssmuth noch Generaloberin Schwester Aloisia Höing, Roland Weigel als Berater zahlreicher Einrichtungsträger im Bereich der Seniorenhilfe, der Gerontologe Dr. Karl Ott und Ludger Dabrock als Geschäftsführer der SMMP-Einrichtungen und Dienste teil.
Kampf gegen Vorurteile
In ihrer fast einstündigen Rede appellierte Rita Süssmuth gleichermaßen an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, dass man das Potenzial der älteren Menschen erkennen müsse: „Zu meiner Zeit als Familienministerin in der 80er Jahren haben wir gegen das Vorurteil angekämpft, man könne Frauen keine leitenden Positionen anvertrauen. Zwar hatten wir uns schon damals gewundert, dass uns die Männer unter diesen Umständen ihre Kinder überließen. Doch hat sich dieses Bild inzwischen gewandelt. Bei den Senioren steht dieser Prozess noch aus.“
Und das meinte Rita Süssmuth in zweierlei Hinsicht: „Zum einen können wir sie nach einer Erholungsphase oder eben stundenweise noch aktiv in das Arbeitsleben einbinden. Zum anderen können wir noch viel von ihnen lernen, auch wenn sie körperlich oder auch geistig nicht mehr in der Lage sind, ihre Lebenserfahrung praktisch einzubringen. Gerade beim Besuch im Haus St. Josef habe ich demente Menschen singen gehört. Selbst sie beherrschen Melodien und Texte, die kaum noch einer kennt.“
Ethische Kernfrage: Wie begleiten wir Menschen aus dem Leben?
Schwester Aloisia Höing bestätigte dies in ihrem Grußwort: „Bei uns gibt es viele ältere Schwestern, die fester Bestandteil unserer Gemeinschaft sind und sie bereichern: Durch die Lebenserfahrung, die sie weitergeben. Die kleinen Aufgaben, die sie nach wie vor verlässlich übernehmen. Die Präsenz bei denen, denen es gesundheitlich noch schlechter geht. Und ihr Gebet.“ Gerade als christlicher Träger müsse der Ordensgemeinschaft wie der Pfarrgemeinde St. Margareta viel daran liegen, die Würde dieser Senioren zu achten und ihnen Wertschätzung entgegenzubringen: „Für mich ist es eine ethische Kernfrage, wie wir Menschen in das Leben hinein und auch wieder aus dem Leben hinaus begleiten.“
„Jeder, der in der Pflege tätig ist, weiß, dass diese Aufgabe auch eine große physische und psychische Belastung ist“, betonte Ludger Dabrock in der Diskussionsrunde. „Für diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben auch die Träger solcher Einrichtungen eine hohe Verantwortung.“ Dennoch sei das Image der Pflegeberufe in eine Schieflage geraten. Rita Süssmuth erklärte: „Viel sehen diese Aufgaben wie auch die der Erzieherinnen und Lehrer immer noch als eine Art professionalisierter Mütterlichkeit.“ Und Roland Weigel, Geschäftsführer der Konkret Consult Ruhr GmbH (KCR) und Berater zahlreicher Träger aus dem Bereich der Seniorenhilfe, belegte das in seinem Impulsvortrag anhand aktueller Studien: „90 Prozent der Bevölkerung können sich nicht vorstellen, jemals in ein Heim zu gehen. Und trotzdem sind 85 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Senioreneinrichtungen überzeugt, dass ihr Wohnplatz auch das Geld wert ist, das sie dafür bezahlen.“
Dankbarkeit erfahren, wie in kaum einem anderen Beruf
Karl Ott, Chefarzt der geriatrischen Abteilung am Gertrudis-Hospital in Herten-Westerholt, betätigte: „Wir haben ein breites Spektrum an Berufen, die besser bezahlt werden müssen. Die Pflege gehört auf jeden Fall dazu.“ Dennoch entschieden sich viele für eine solche Ausbildung, weil man dort auch auf eine Weise Dankbarkeit erfahre wie in sonst keinem anderen Beruf. Ludger Dabrock ergänzte: „Es erfüllt, wenn man Menschen in dieser Lebensphase Qualität gibt, die sie sonst nicht hätten. Das darf sie auch stolz machen.“
Dass die Bezahlung und Anerkennung dieser Leistung gesellschaftlich anders bewertet wird, zeige jedoch, dass es noch vieler Anstrengungen bedürfe, hielt Rita Süssmuth fest: „Wer sich heute für diesen Beruf entscheidet, ist entweder sehr stark oder hat keine Alternative. Es gilt, eine breitere Schicht junger Leute dafür zu interessieren.“
Zugleich müssten die Bedingungen für pflegende Angehörige erleichtert werden, ergänzte Roland Weigel: „Es reicht nicht mehr, an den Betriebskindergarten zu denken, um denjenigen eine Arbeitsstelle zu ermöglichen, die Kinder erziehen. Wir müssen auch diejenigen beruflich entlasten, die zu Hause Angehörige pflegen.“
Und schließlich, so Schwester Aloisia, müsse es neben dem stationären Heim und der ambulanten Pflege noch mehr regional und individuell angepasste Wohn- und Betreuungsangebote geben. „Der Ausbau von ambulanten, teilstationären und stationären Bereichen hat nicht nur eine größere Zahl von Anbietern erzeugt, sondern auch die Qualität der Angebote deutlich verbessert.“ Rita Süssmuth sieht das in dem Haus St. Josef hervorragend umgesetzt, „weshalb ich auch gern die Schirmherrschaft für diese Einrichtung übernehme.“
Ludger Dabrock verwies darauf, dass die Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel in direkter Umgebung von Wadersloh auch schon andere Alternativen anböten: „So ist unsere ambulant betreute Wohngemeinschaft in Oelde ein Riesenerfolg.“ Er ist überzeugt, dass sich das Angebot noch viel weiter auffächern wird. Und Schwester Aloisia ist zuversichtlich, dass dies vor allem mit christlicher Prägung gelinge: „Denn wir benötigen Angebote, die ein gutes Leben in Gemeinschaft zu akzeptablen Kosten ermöglichen. Und wir benötigen Menschen, die einerseits ein hohes Maß an beruflicher Kompetenz besitzen und sich den älteren Menschen andererseits von Herzen zuwenden.“ Zeit sei ein wichtiger Faktor. Rita Süssmuth schätzt sich umso glücklicher, die Schirmherrschaft für ein Haus übernommen zu haben, wo dieser Anspruch erfüllt werde: „Bei meinem Besuch habe ich gespürt, dass es ein lebendiges Haus ist. Und dass es für die Bewohner eine Heimat ist.“