Geseke/Cochabamba. Eva Sadura spricht mittlerweile besser Spanisch als Deutsch. Seit drei Jahren lebt die 8-Jährige zusammen mit ihren Schwestern Lea (14), Rut (10) und ihren Eltern Petra und Volker Sadura in Bolivien. Zuhause in Cochabamba spricht die ganze Familie nur noch Spanisch. Die Mädchen besuchen die Internationale Amerikanische Schule, wo sie in Englisch unterrichtet werden und neben Spanisch auch noch Chinesisch und Quechua lernen. Die Eltern ihrer vielen neuen Freunde sitzen im Gefängnis.
2007 hatten die Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel eine neue Leitung für das Kinderdorf Aldea de Niños Cristo Rey in Cochabamba gesucht. Petra Sadura und ihre Familie entschieden sich dafür, die Aufgabe zu übernehmen. Die 41-Jährige leitet seit dem das Kinderdorf und kümmert sich um rund 180 Mädchen und Jungen zwischen zwei und achtzehn Jahren, deren Eltern im Gefängnis sitzen – die meisten wegen Drogendelikten.
Mehrmals im Monat ist Petra Sadura in den Gefängnissen unterwegs, um inhaftierte Mütter und Väter dazu zu überreden, ihre Kinder in ihre Obhut zu geben. Dass die Kinder als Freigänger mit im Gefängnis leben wenn die Eltern eine Haftstrafe absitzen, ist in Bolivien bittere Normalität. „Bis auf das Hochsicherheitsgefängnis, das einmal ein Vorzeigeprojekt gewesen sein muss, ist alles klein, eng und schmutzig“, sagt Sadura. „Die Kinder, die wir dort herausholen, sind verlaust, verwurmt, und haben nicht selten Typhus und Hepatitis.“ In der Aldea werden sie medizinisch versorgt und – wo nötig – neu eingekleidet und psychologisch betreut. Und sie gehen regelmäßig zur Schule, was für viele auch eine ganz neue Erfahrung ist.
Auch wenn Lea, Rut und Eva nicht dieselbe Schule besuchen wie die Kinder der Aldea, so ist ihr Freundeskreis dort doch größer als an der internationalen Schule. Die Kinder der Gefangenen sind ihnen einfach näher, als ihre Klassenkameraden. Das hängt aber auch mit der Sicherheitslage im Land zusammen. Allein lässt ihre Mutter sie nirgends hingehen. „Drei blonde Mädchen – die werden mir geklaut“, befürchtet sie.
Der bolivianische Staat befürchtet das auch. Als Petra Sadura mit ihren Töchtern Anfang Mai dieses Jahres zum Heimatbesuch nach Deutschland fliegen wollte, wurde den Kindern die Ausreise erst einmal verweigert.
„Ohne eine richterliche Erlaubnis dürfen Alleinreisende keine Kinder außer Landes bringen – auch nicht, wenn es die eigenen sind und sie eine andere Staatsangehörigkeit haben“, musste die Mutter lernen. Bolivien will so dem internationalen Kinderhandel einen Riegel vorschieben. Weil Vater Volker Sadura schon früher abgeflogen war und sich die Beamten am Flughafen nicht erweichen ließen, blieb der Mutter nichts anderes übrig, als sich dem Antragsverfahren beim zuständigen Gericht zu stellen. Dank ihrer Hartnäckigkeit bekam sie die Ausreiseerlaubnis für ihre Kinder für bolivianische Verhältnisse recht schnell und aus dem Heimaturlaub in Geseke wurde doch noch etwas.
Über das Wohl der Kinder wachen in Bolivien auch Staatsanwaltschaft und Jugendämter mit Argusaugen. Im vergangenen Jahr wurde das Kinderdorf einer Generalinspektion durch die Behörden unterzogen. Es hat auch schon eine anonyme Anzeige wegen Kindesmissbrauchs gegeben. Die beruhte auf einem Missverständnis und die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden bald wieder eingestellt.
„Auffallend ist, dass viele Kinder offenbar an Missbrauch gewöhnt sind“, sagt Petra Sadura. Er geschieht durch Familienmitglieder oder vielfach auch durch Hausbesitzer, von denen vor allem arme Familien oft abhängig sind. „Die Empörung darüber ist in der bolivianischen Gesellschaft und bei den Familien eher gering.“ Im Falle eines elfjährigen Mädchens, das im Gefängnis von Mithäftlingen des Vaters vergewaltigt worden war, musste sie die Mutter lange dazu überreden, Anzeige zu erstatten. Zu alltäglich ist das Verbrechen, zu gering die Aufklärungsrate der Polizei. Das Kind wird mittlerweile von der Psychologin des Kinderdorfes, Milena Ralcevic, betreut. Die kann sich aber auch nicht um alle kümmern. Deshalb braucht das Kinderdorf die tägliche Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und anderen Hilfsorganisationen. „Etliche unserer Kinder haben mit Sicherheit mehr erlebt, als wir wissen“, ahnt Petra Sadura. In der Aldea de Niños genießen die Kinder eine Geborgenheit, die den meisten bisher verwehrt war.
Sie wohnen in 15- bis 20-köpfigen Gruppen zusammen. Jede Gruppe wird von einer Tia – Tante – betreut. Die „Tanten“ sind ausgebildete Erzieherinnen oder Mütter, die nach der Erziehungspause, die sie den eigenen Kindern gewidmet haben, einen Wiedereinstieg in das Berufsleben suchen. „Wir wollen nicht, dass die Kinder ihre Betreuerinnen ‚Mama‘ nennen, denn sie alle haben ja noch ihre Eltern“, sagt Petra Sadura. Die Kinder sehen das offenbar großzügiger: Zum Muttertag ist sie es, der die Kinder ein Ständchen widmen – morgens um vier. „Ich wollte um fünf Uhr zum Markt fahren, um einzukaufen, und die Kinder wollten mich unbedingt überraschen.“
Die leiblichen Eltern kommen einmal im Monat aus den Gefängnissen zu Besuch ins Kinderdorf – unter strenger Bewachung. Mitunter bedeutet das einen kleinen Kampf mit den Polizisten, wenn die den Häftlingen die Handschellen nicht abnehmen wollen. Aber auch das gehört zu den Grundsätzen von Petra Sadura: In der Aldea sollen die Kinder ihre Eltern nicht in Handschellen sehen.
Wenn die Eltern keine Besuchserlaubnis bekommen, bringt sie die Kinder eben zu ihren Vätern oder Müttern in die Gefängnisse. Das bedeutet mehrstündige Fahrten mit öffentlichen Bussen und Busfahrern, die erst einmal streikten, als der Staat ihnen den Alkoholkonsum während der Dienstzeit verbot. „Es ist schon ein besseres Gefühl, wenn man selbst am Steuer sitzt“, sagt Sadura. Deshalb braucht das Kinderdorf einen eigenen Bus – dringend.
Wie es den Kindern ergeht, wenn die Eltern sie nach Verbüßung ihre Strafe aus dem Kinderdorf wieder abholen, weiß Petra Sadura nicht. „Manchmal tut es schon sehr weh, wenn wir ihnen ihre Kinder übergeben.“ Das muss aber nicht unbedingt sofort nach der Haftentlassung geschehen. „Wir bieten immer an, die Kinder so lange zu behalten, bis die Eltern wieder Fuß gefasst haben.“ So lange können die Kinder dann weiterhin in dem vergleichsweise komfortablen Kinderdorf wohnen, die Schule besuchen und jeden Tag satt werden. Dazu tragen vor allem die drei neuen Köchinnen bei, die sie eingestellt hat. Das Essen schmeckt auch ihren eigenen Kindern: „Die Erdnusssupper schmeckt super“, schwärmt Rut. An jedem der sieben Häuser hängt nun außerdem eine Gastherme für heißes Wasser – ein kleiner Luxus für die Kinder armer Eltern. Und es sollen noch mehr Kinder werden. „Wir planen, eine Gruppe für die ganz kleinen Kinder einzurichten, was natürlich wieder größere Kosten bedeutet für besonders geschultes Personal, Windeln und Babynahrung.“
Der Bedarf an solchen Hilfsangeboten und an guten Schulen ist groß in Bolivien. Ebenso groß ist das Misstrauen der Behörden gegenüber privaten und vor allem gegenüber kirchlichen Jugendhilfeeinrichtungen. Das Entwicklungsland Bolivien will sich vom wirtschaftlichen und sozialen Einfluss früherer Kolonisatoren emanzipieren. Deshalb müssen nun auch alle Schulen Quechua, die Sprache der indianischen Bevölkerungsmehrheit unterrichten. Dass dennoch viele Kinder direkt vom Jugendamt oder der Staatsanwaltschaft in das kirchliche Kinderdorf geschickt werden, ist da kein Widerspruch, sondern eine Auszeichnung.
„Die politische Stimmung ist sehr gereizt, oft aggressiv“, sagt Petra Sadura. „Wer etwas erreichen will, macht eine Straßenblockade.“ Wo die Menschen arm sind, ist Scheitern keine Option, wenn es darum geht einen eigenen Vorteil zu erzielen. „Unser größtes Problem ist, dass die Menschen oft nicht ehrlich sind. Die Kinder bekommen so auch keine Beziehung zur Wahrheit.“
Die politische Lage ist so unsicher wie die Straßen und für Ausflüge mit ihren eigenen Kindern bleibt Petra Sadura in der Regel nur der Sonntagnachmittag. Trotzdem ist sie sicher, ihre Aufgabe gefunden zu haben. „Mit meinem Spanisch komme ich mittlerweile überall durch und bei schwierigen Verhandlungen ist Schwester Mariá Laura Rosado, die Oberin der bolivianischen Ordensprovinz, eine große Hilfe.“ Für Eva, Rut und Lea ist Spanisch inzwischen zu einer zweiten Muttersprache geworden. Und die drei freuen sich schon auf den Rückflug nach Cochabamba, nach Hause.