Prof. Dr. Martin Lechner mahnt vor 200 Gästen des Placida-Empfangs in Heiligenstadt zu einer offeneren aber auch intensiveren religiösen Bildung
Heiligenstadt. „Die christliche Kirche steht vor der größten Herausforderung ihrer 2000-jährigen Geschichte“, betonte Prof. Dr. Martin Lechner am Donnerstagabend vor den fast 200 Gästen des Placida-Empfangs im Bergkloster Heiligenstadt. Dabei gelte es den Wandel von der Volksreligion zur Wahlreligion zu vollziehen. „Das Monopol der Weltdeutung und Lebensführung haben die beiden großen christlichen Konfessionen verloren. Jetzt muss es darum gehen, Menschen ein Angebot zu machen. Sie sollen den Glauben als wichtiges Nahrungsmittel für ihr Leben entdecken können.“
Vor diesem Hintergrund warb der Leiter des Instituts für praktische Theologie mit Schwerpunkt Jugendpastoral an der Philosophie-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos in Benediktbeuern für einen toleranten Umgang mit den anderen Weltreligionen. Und gleichzeitig betonte er die Notwendigkeit, religiöse Bildung als gemeinsame Aufgabe von Kirche und Staat zu erhalten: „Religiöse Toleranz beginnt dort, wo man auch Kenntnisse über andere Religionen erwirbt. Und die bleibt unverzichtbar für das Zusammenleben der Kulturen.“
Erinnerung an die selige Placida
Die Generalleitung der Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel hatte bereits zum siebten Mal zu dem Placidaempfang eingeladen. Die selige Placida hatte 1862 die erste deutsche Niederlassung und somit auch den inzwischen eigenständigen deutschen Zweig der Gemeinschaft gegründet. So soll der Empfang an die Wurzeln der Gemeinschaft erinnern und das heutige Wirken in zahlreichen Konventen und über 30 Einrichtungen und Diensten hinterfragen. Der Rektor des Bergklosters, Pfarrer Bernd Kucklick, erinnerte während der Vesper in der Klosterkirche an das Leben von Schwester Placida: „Sie war erst 31 Jahre alt, als sie Generaloberin wurde. Im Vertrauen auf die Gründerin und im Glauben daran, dass es Gottes Wille ist, hat sie ihre Herausforderungen gemeistert und in Liebe vollendet.“
„Wir wollen eine Sehnsucht befriedigen“
Von diesem Mut könne sich die Kirche heute einiges abgucken, nahm Prof. Dr. Martin Lechner in seinem anschließenden Vortrag in der Schulaula auf dieses Wirken Bezug: „Denn in der heutigen Gesellschaft gehe es darum, Glaube und Religion als Angebot begreifbar zu machen. Wir dürfen uns nicht aufdrängen. Vielmehr wollen wir eine Sehnsucht befriedigen.“
Die derzeitige Entwicklung teilte er in drei Stufen ein: Das Verschwinden, die Wiederkehr und die Abkehr von der Religion. So sei es alarmierend zu wissen, dass sich die Zahl der Kirchgänger seit 1990 bundesweit halbiert habe und sich die Zahl der Priester innerhalb der nächsten acht bis zehn Jahre in vielen Bistümern ebenfalls halbieren werde. Dennoch gingen an jedem Wochenende immer noch mehr Menschen in die Kirche als in ein Fußballstadion. Und religiöse Themen sowie kirchliche Events erlebten geradezu eine Renaissance: „Der Weltjugendtag ist ein Renner. Das Buch `Ich bin dann mal weg` von Hape Kerkeling hat sich drei Millionen Mal verkauft. Und Prominente wie Harald Schmidt, Gundula Gause oder Thomas Gottschalk berichten öffentlich von ihren religiösen Überzeugungen und Erfahrungen. „Trotz immer geringerer Bindung an die Kirche ist die Religion also aus der Schamnische des Privaten herausgetreten. Sie beansprucht wieder öffentliche Geltung für sich“, lautet die Erkenntnis des Theologen. Diese Geltung habe aber einen ganz anderen Charakter als noch in den 50er Jahren, als noch der Pfarrer darüber entschied, ob die Erntearbeit am Sonntag erlaubt sei: „Stattdessen wird die Religion neu formatiert.“ Beispiele dafür seien ein Fan-Magazin wie das „Schalke unser“ oder die Zigarettenwerbung, die eine junge Frau im Beichtstuhl zeigt. Unterzeile: „Test it“.
Religionen, die auf Tradition, Autorität und Offenbarungsglauben beruhten, neigten allerdings dazu, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen. „Dadurch werden sie anfällig für Missbrauch und Extremisten. Darauf beruhen die meisten Gewaltakte weltweit.“ Das forciere den Vertrauensverlust und die zunehmende Abkehr von der Religion.
„Bildung ohne Religion ist unvollständig“
Angesichts dieser Entwicklungen ermutigte Prof. Lechner zu einer interkonfessionellen, religiösen Bildung an den Schulen. Zu diesem Schritt müssten die Kirchen natürlich bereit sein und lernen, dass sie die Unterrichtung im Konfessionsglauben vor allem auf die Katechese verlagern. Eine Ausnahme bildeten natürlich die Schulen in christlicher Trägerschaft. Doch für alle Schulen gelte: Bildung ohne Religion sei unvollständig – und Religion ohne Bildung sogar gefährlich. In diesem Zusammenhang berief sich der Theologe auch auf Hanns Küng: Kein Weltfriede ohne Religionsfriede.
Abschließend leitete Professor Lechner vier Thesen aus seinem Vortrag ab: Der Beitrag der Kirchen zur religiösen Bildung müsse als kulturelle Diakonie im Zeichen der gegenseitigen Toleranz verstanden werden. Zudem müsse kirchliches Bildungsengagement auf die individuelle Lebensfähigkeit und soziales Verantwortungsbewusstsein hinzielen. „Damit Leben gelingt, wie es auch im Wahlspruch Ihrer Gemeinschaft heißt“, ergänzte Lechner. Drittens müsse die Kirche ihr Bildungsgut nicht aufzwingen, sondern profiliert und kultiviert ins Spiel bringen. Dann befähige die kirchliche Bildungsbeteiligung auch zum konstruktiven Umgang mit religiöser Pluralität.
Empfang im Thomas-Morus-Haus
Dass es auf diesem Weg noch zahlreiche Fragen zu klären gibt – beispielsweise, wer einen so umfassenden Religionsunterricht leisten kann – gab Lechner unumwunden zu. Dennoch kannte er aus verschiedenen Diözesen und der Schweiz schon positive Beispiele. Auch Generaloberin Schwester Aloisia Höing sagte in ihrem Schlusswort, das sie oft das Verlangen spüre, noch mehr über die Glaubenswelt anderer Religionen wissen zu wollen. Und dass es ein Ziel sein müsse, sich gegenseitig mit den eigenen Überzeugungen zu akzeptieren: „Vor allem in den westlichen Bundesländern wird einem das schon im Straßenbild immer wieder bewusst“
Die Diskussion über das Thema religiöser Toleranz und Bildung wurde auch bei dem anschließenden Empfang im Thomas-Morus-Haus fortgeführt. Dazu hatte die Klosterküche mit ihren Auszubildenden wieder einen Imbiss bereitet. Und so durften die fast 200 Gäste nicht nur seelisch, sondern auch körperlich gestärkt wieder nach Hause fahren.