
Schränken Immobilien die Mobilität der Christen ein? Der Placida-Empfang blickt ins Mittelalter und stellt Fragen an die Gegenwart
„Wenn die Stadt ein Bild des Himmels ist, will der Mensch davon ein Abbild auf Erden erschaffen“, betonte Professor Dr. Matthias Wemhoff beim Placida-Empfang am Mittwochabend in Heilbad Heiligenstadt. Zugleich hätten die massiv gebauten Städte im Mittelalter eine große gesellschaftliche Dynamik entfacht. Ausgehend von diesem Bild ergab sich die Frage, welche Rolle die Kirchen im Mittelpunkt dieser Städte spielten. Und was lässt sich aus dieser lebendigen Vergangenheit für heute lernen?
Rund 200 Gäste waren zu dem Empfang in die Kirche St. Martin gegenüber des Bergklosters gekommen. Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow freute sich über das große Interesse und konnte auch zahlreiche Ehrengäste begrüßen. Darunter den thüringischen Landtagspräsidenten, die Landrätin und die erste Beigeordnete der Stadt. Die Vesper zu Beginn hielt der Erfurter Bischof Dr. Ulrich Neymeyr. Und er stellte gleich die Frage in den Raum, ob die Kirche mit ihren Immobilien nicht ihre Mobilität verliere: „Wir dürfen nicht an toten Steinen hängen. Da können wir viel von den ersten Christen lernen, die keine Kirchen errichten konnten, aber Gemeinden aus lebendigen Steinen bauten.“

Ähnlich erlebte es die Ordensgründerin Maria Magdalena Postel im 19. Jahrhundert in Frankreich. Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow betonte: „Sie hat in den letzten Jahren ihres Lebens nicht nur den Wiederaufbau einer Abteikirche in der Normandie betrieben, sondern sie hat vorrangig in den inneren Aufbau der jungen Ordensgemeinschaft investiert. Um mit dem biblischen Bild zu sprechen: Sie wollte eine Kirche aus lebendigen Steinen errichten.“
100 Jahre nach ihrer Heiligsprechung gelte es mit Blick auf die Zukunft nach Orientierung zu suchen, wie man lebendig weiterbauen könne: „Der Blick in die Geschichte kann uns inspirieren, wie heute Glaube und Kultur einander beeinflussen, stören und bereichern. Und wie aus Steinen lebendige Steine werden.“
Diesem Thema widmete sich der diesjährige Placida-Empfang. Und Matthias Wemhoff erweckte dafür auch das Mittelalter anschaulich zum Leben. Der Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin ist ein ausgewiesener Experte für die Entwicklung der Städte. Einem großen Publikum ist er beispielsweise durch seine Beiträge zur Sendung Terra X bekannt. In Berlin kennt er die Generalassistentin der Ordensgemeinschaft und dortige Geschäftsführerin der Jugendeinrichtung „Manege“, Schwester Margareta Kühn, persönlich. Sie hatte den Kontakt zu ihm für den Vortrag hergestellt.
Das Bild der Stadt

Der Archäologe betonte: „Das menschliche Zusammenleben und das himmlische Zusammenleben sind offenbar sehr komplex strukturiert. Für beide wurde immer wieder das Bild der Stadt genutzt. Und vor allem im zwölften Jahrhundert entwickelt dieses Bild einen enormen Antrieb.“ Gott als großer Baumeister, Jesus als Eckstein. Diese Metapher habe damals auch das Christentum geprägt.
Dies veranschaulicht eine Grafik im Handbuch für Vermesser aus dem 14. Jahrhundert: Sie zeigt Christus, der dem Vermesser den Messstab übergibt. „Alles Konstruieren ist letztlich eine Annäherung an das göttliche Schöpfungswerk – und gottgewollt“, folgert Wemhoff, und schließt daraus: „Es gibt offenbar kaum etwas gottgefälligeres, als Architekt oder Stadtplaner zu sein.“
Zwar seien die römischen Städte auf deutschem Gebiet die ersten gewesen – „aber die mittelalterliche Struktur der Städte war eine ganz andere.“ Wemhoff verdeutlichte das am Beispiel Trier: „Hier wird der Palast zum Mittelpunkt, in dem die erste Kirche gegründet wird. Dort entsteht später der Markt. Die Straßen verlaufen dann in diese Richtung.“ Römische Ruinen wurden bestenfalls wiederverwertet. Die berühmte Porta Nigra habe nur überlebt, weil dieses Bauwerk im 12. Jahrhundert schon zu einem pastoralen Ort geworden sei.
Kirchen machen das Ranking aus

So habe sich der Wert einer Stadt bereits um die erste Jahrtausendwende an der Zahl von Kirchen und Klöstern bemessen: „Das ist das Ranking. Also werden geistige Städte gebaut.“
Und als das Recht der Stadtgründungen wenig später von den Bischöfen auf die Landesherren überging, sei die Zahl der Stadtgründungen explodiert: „Archäologisch können wir genau fassen, wie schnell das ging.“ Wemhoff zeigte das anhand von Köln, Freiburg und Lübeck.
Zuerst wurden die Flächen vermessen, Innen und Außen durch mächtige Wälle und Stadtmauern getrennt. „Häuser und Straßen wurden systematisch errichtet. Handwerker bereiteten die Komponenten dafür außerhalb der Stadt vor. Erst dann kamen die Menschen. Es ist also nicht so, dass Städte organisch wuchsen.“
Ordensgemeinschaften gingen auf Bedürfnisse ein
Zwischen 1150 und 1250 seien über tausend Städte gegründet worden. Und fast alle hätten überlebt. „Dort haben die Menschen Eigentum. Damit wurde Kontinuität geschaffen.“ Dörfer, in denen die Menschen oft auf Lehnsgrundstücken lebten, seien dagegen zugrunde gegangen und nicht resistent.

Wie sich auch die Ordensgemeinschaften in diesen Städten verfestigten, zeigte der Referent anhand der Franziskaner: „Als sie sich 1225 in Erfurt ansiedelten, wurden sie gefragt, ob sie ein Kloster gründen wollten. Doch sie wussten gar nicht, was ein Kloster ist. Offenbar waren die Franziskaner damals noch wie die Urchristen richtig mobil.“ Doch schon um 1260 bauten sie in Erfurt eine große Kirche mit Lettner und Chorgestühl: „Das ist eine spannende Entwicklung.“
Ordensgemeinschaften hätten damals die Bedürfnisse einer städtischen Gemeinschaft erfüllt: ob beim Wissenstransfer oder in der Gesundheitsfürsorge: „Das ist eine ganz andere Öffnung als sie der Pfarrklerus hatte.“
Meist seien es Männerorden gewesen, doch seien auch von Frauenorden erstaunliche Zeugnisse überliefert: So zeige das Herforder Rechtsbuch von 1375, wie die dortige Äbtissin mit Hilfe des Erzbischofs von Köln die Stadt Herford gegründet habe, weil sie mit Bielefeld im Streit lag.
In der Eintracht liegt die Stärke
„Wen heirate ich? Welchen Beruf lerne ich? Was will ich machen? Diese Fragen hat man sich im Mittelalter nur in der Stadt stellen dürfen. Die Städte machten also frei. Sie schafen Ausgleichsmöglichkeiten für verschiedene Interessen. Sie sind eine Wertegemeinschaft. Und das macht sie erfolgreich.“ Wie es der Eingangsspruch des Herforder Rechtsbuches formuliere: „Oh Bürger, seid einträchtig, denn der Bürger Eintracht ist die Stärke der Stadt.“
Der thüringische Landtagspräsident Thadäus König ergriff nach dem Vortrag das Wort und bestätigte angesichts der herausfordernden politischen Konstellation in seinem Parlament: „Dieser Spruch ist aktueller denn je. Denn wenn man einträchtig ist, ist man stark als Gemeinschaft. Im Landtag ist diese Eintracht sehr vonnöten.“
Auch erinnerte er daran, wie die „Heiligenstäter Schulschwestern“ – so der volksläufig noch immer verwendete Name für die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel im Eichsfeld – zu den Zeiten der Proteste gegen die DDR-Führung Ende der 1980er Jahre ihre Türen im Kloster offenhielten und den Menschen somit Sicherheit boten.
Neue Strahlkraft entfalten
Doch blieb die Frage im Raum, welche Impulse heute noch von der Kirche und ihren großen Bauten ausgehen können. Da schloss sich der Kreis zu den Eingangsworten des Erfurter Bischofs: „Die Urchristen haben in Privaträumen Gottesdienst gefeiert. Sie hatten gar keine Mittel, Kirchen zu bauen.“
Die Städte wandeln sich. Kirchen würden heute wieder profaniert: „Wir dürfen uns nicht zu sehr mit den toten Steinen beschäftigen. Die Urchristen erkannte man daran, wie sie miteinander umgehen, füreinander sorgen und einen Blick haben für die Nöte der Menschen. So haben sie eine große Strahlkraft entfaltet. Und diese Strahlkraft traue ich uns Christen heute immer noch zu.“
Ganz ähnlich, wie es der Auftrag Maria Magdalena Postels fordert: „Die Jugend bilden, die Armen unterstützen und nach Kräften Not lindern.“