„Wir werden nicht mehr alle mitnehmen können“, bekannte Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz am Montagabend beim Forum Weltkirche. „Kirche geht raus. Wohin? Mit wem? Wen spricht sie noch an?“ Diese Fragen diskutierte Bentz mit Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow, Schulsozialarbeiterin Melanie Schmitz und Sophie Rüther von dem Projekt „Augen auf!“.
Bentz hat mittlerweile 17 der 19 Dekanate seines Bistums besucht und dabei völlig unterschiedliche Räume kennengelernt. In Dortmund sehe der Bedarf ganz anders aus als im Sauerland, aber überall sehe er ganz viel Engagement, neue Räume für die Kirche zu erschließen. Die Frage sei: Wie nehmen wir so viele wie möglich mit? Und wofür steht Kirche?
Einen Diskussionsanstoß dazu bot ein Film über Janete, eine junge Brasilianerin. Sie lebte mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter in schwierigen sozialen Verhältnissen. Die Schwestern in Leme halfen ganz praktisch, Janete konnte studieren und ist heute Lehrerin an einer der Schulen der Ordensgemeinschaft.
Der Film beleuchtet eindrücklich, was Seelsorge vermag – wenn sie denn auf Seelen trifft. Das scheint immer schwieriger zu werden.
Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche, die Moderator Ulrich Bock anführte, liefert dazu ernüchternde Erkenntnisse. Vor allem die, dass die meisten, die sich aktiv am Kirchenleben beteiligen, einen Hochschulabschluss haben.
Die kirchennahe Religiosität in Deutschland unterliegt einer gewissen Milieuverengung: Sozial Benachteiligte und marginalisierte Gruppen sehen in der Kirche tendenziell keine Heimat mehr. Zugleich führt auch die oft als Modernisierung bezeichnete Auflösung von Traditionen bei den jüngeren Generationen zu einem kulturellen Wertewandel.
https://kmu.ekd.de/kmu-themen/soziale-lage#c14146
Im Dortmunder Norden, einem Gebiet mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil, betreibe die Caritas einen Treffpunkt für junge Frauen, die sich dort treffen können, ohne für etwas vereinnahmt zu werden. Die, die dort hinkommen, gestalten auf ihre Weise Kirche, sagte Erzbischof Bentz. „Wir müssen aber auch sehen, dass wir viele Milieus verloren haben.“ Die Jugendpastoral erreiche Jugend aus Bildungsmilieus, das Bildungsprekariat erreiche sie nicht mehr.
Noch schwieriger werde es dort, wo Räume weniger und Distanzen größer werden, wie im Sauerland. Man könne die Frage stellen, ob die Kirche oder die Kita wichtiger sei. Schließe die Kirche eine Kita, springe möglicherweise der Staat ein. Werde eine Kirche geschlossen, ziehe das meist viele Kirchenaustritte nach sich, so Bentz. Das schränke dann die Möglichkeiten weiter ein. Im Dorf sei die Kirche eben auch ein Identifikationsmerkmal. „Wir haben auch schon überlegt“, sagte Bentz, „die Kita in die Kirche zu verlegen.“ Viel hänge davon ab, wie profanisierte Kirchen genutzt werden.
Wohin geht Kirche?
Dass Räume anders genutzt werden müssen, betrifft auch die Ordensgemeinschaften, deren Mitglieder stetig weniger werden. Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow berichtete von einer neuen Nutzung des Bergklosters Heiligenstadt. Die Schwestern sind in Heiligenstadt weniger geworden, das Kloster wurde langsam zu groß. Man habe gemeinsam beraten, wie man mit der Situation umgehe. Schließlich haben die Schwestern entschieden, eine Etage an eine Wohngemeinschaft für geistig beeinträchtigte Menschen zu vermieten.
Andernorts, in Mosambik, machen sich die Schwestern in kleinen Gruppen auf den Weg in abgelegene Gemeinden, in denen nur selten ein Priester ist. Dort bleiben sie für ein paar Wochen, feiern Gottesdienste und sind einfach für die Menschen da.
Dort und in Deutschland steht das Engagement der Schwestern unter der Überschrift „Damit Leben gelingt“. Das gelte für Schulen wie für Senioreneinrichtungen. „Man muss nicht immer vom lieben Gott reden“, so Dikow. Die Jugendhilfeeinrichtung Manege in Berlin biete ihren Jugendlichen zum Beispiel an, einen „Wohnungsführerschein“ zu machen. Der helfe, in Berlin eine Wohnung zu finden.
Ganz praktische Unterstützung ist auch das tägliche Brot von Melanie Schmitz, die als Schulsozialarbeiterin an den Walburgisschulen in Menden arbeitet. Sie berät nicht nur Schülerinnen und Schüler und deren Eltern, sondern auch Lehrer. „Man muss an den Bedarfen dran sein“, sagt sie und ist froh, dass sie sich anders als viele andere Schulsozialarbeiter auf die Arbeit an einer Schule konzentrieren kann. So habe sie auch Zeit für Beziehungsarbeit.
Wir werden aber als Kirche nicht von Projekten leben können.
Erzbischof Bentz
Menden ist auch die Heimat des Projekts „Augen auf!“ zu dessen Organisationsteam Sophie Rüther gehört. Seit 2017 setzt sich dieses Netzwerk Mendener Schulen ein für Menschlichkeit, Vielfalt, Zivilcourage, Toleranz und gegen Rassismus. Eine große Aktion gibt es alljährlich am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht. In diesem Jahr will man Berichte von Jugendlichen sammeln und veröffentlichen, die Ausgrenzung und Rassismus erfahren haben. Die Jugendlichen sollen dabei auch aufschreiben, was ihnen geholfen hat.
Erzbischof Bentz ist froh, dass „Augen auf!“ nicht das einzige Projekt dieser Art im Bistum ist. „Wir werden aber als Kirche nicht von Projekten leben können“, sagte er, „denn die erfordern einen Unterbau und eine Infrastruktur.“ Und genau das schwinde gerade.
Zurzeit sei die Kirche in einem großen Lernprozess darüber, was die Rolle von Kirche und Glauben in einer säkularen Gesellschaft sei, so Bentz. „Wer wir das Gesicht der Kirche sein, wenn die hauptamtlichen Mitarbeiter weniger werden? Es werden mehr Ehrenamtliche und Freiwillige sein.“ Kirche könne präsent sein durch ganz unterschiedliche Projekte und Gesichter. Der Erzbischof ist zuversichtlich: „Wir werden kleiner und weniger, aber nicht weniger lebendig.“
„Wir müssen Charismen sehen, ernst nehmen und wirken lassen“, sagte Bentz. „Wer bin ich, dass ich zu sagen habe, welches Charisma da wirkt?“ In diesem Sinne müsse man junge Menschen ermutigen, das Gesicht der Kirche zu sein. Auch dürfe man Bedürftige und Arme nicht als Objekte der Verkündigung zu sehen. „Menschen, die erfahren haben, dass Kirche ihnen geholfen hat, werden darüber nicht schweigen“, so Bentz.
Im Erzbistum Paderborn gibt es einen Innovationsfonds für pastorale Projekte und der fördert unter anderem zwei Projekte von der evangelischen Mescheder Pfarrerin Kathrin Koppe-Bäumer. Die war unter den Gästen des Forums bedankte sich bei der Gelegenheit herzlich für die Kooperation. Sie meinte: „Wir müssen nicht den Besuch des Gottesdienstes in den Vordergrund stellen, sondern den Gedanken von Menschlichkeit und Mitgefühl.“
Der Bischof stimmte zu. „Menschen spüren, ob wir etwas wollen oder ob wir absichtslos geben. Wir müssen mehr absichtslos geben.“