Christoph Rickels erzählt im Bergkloster am Karfreitag über sein Schicksal – und warum er das Miteinander cool machen will
Als Christoph Rickels die Bilder von jenem Augenblick zeigt, die sein Leben veränderten, ist es in der Kirche ganz still. Die Szene, wie er unvermittelt niedergeschlagen wird, hat eine Überwachungskamera festgehalten. Seitdem ist er schwerbehindert. Doch stand Rickels wieder auf und gründete das Netzwerk „First togetherness“ – „Das Miteinander zuerst.“ Davon erzählte er über 200 Besuchern am Abend des Karfreitages im Bergkloster Bestwig.
Er sei früher selbst jemand gewesen, der was zu sagen haben wollte. Vielleicht war er auch ein Angeber. „Ich habe wahrscheinlich viele Dinge gemacht, bei denen ich mich im Rückblick fragen muss: Warum denn?“, sagt Rickels selbstkritisch. Er weiß das vor allem von Erzählungen seiner Freunde und seiner Familie. Denn die Erinnerungen seines Lebens bis zu jenem persönlichen Karfreitag am 29. September 2007 sind so gut wie ausgelöscht.
Ein Biograf schreibt zurzeit ein Buch über ihn. „Und es berührte mich sehr, als Christoph Rickels mir verriet, dass er selbst gespannt ist, was darin stehen wird. Denn der Biograf setzt sein Leben vor dem diesem Ereignis wieder zusammen“, berichtete Schwester Maria Ignatia Langela. Sie organisiert die außergewöhnlichen Veranstaltungen am Karfreitag im Bergkloster bereits seit acht Jahren und hatte auch Christoph Rickels nach Bestwig eingeladen.
Schlag ins Gesicht
Die Geschichte jenes Abends im September 2007 ist schnell erzählt. In einer Diskothek hatte Rickels einer sympathischen jungen Frau einen Drink ausgegeben. Nicht ahnend, dass die einen Freund hatte, der das beobachtete. Als Christoph Rickels gehen wollte, wartete dieser Mann auf ihn am Ausgang und schlug zweimal in sein Gesicht. Offenbar aus Eifersucht.
War es ein seltsamer Zufall oder doch vielleicht Fügung, dass der frühere Hobbyfußballer und Musiker Christoph Rickels erst eine Woche zuvor ein Lied geschrieben hatte, das eine Vorahnung dieses Augenblicks zu vermitteln scheint? Darin beschreibt er beim Blick in den Spiegel seine Verzweiflung, nachdem ihn seine Freundin verließ: „Ein Mensch, wie er einst mal war, ist ab dieser Sekunde jetzt nicht mehr da.“
Die Aufnahme der Überwachungskamera zeigt Menschen, die erschrocken um Rickels herumstehen, als der auf dem Boden liegt. „So blieb ich vier Monate liegen. Im Koma“, sagt der heute 31-Jährige. Doch er fand ins Leben zurück. Und er entwickelte keinen Hass, keine Rachegefühle, sondern das Verlangen, in der Welt etwas zu verändern. Ähnlich wie Antoine Leiris, der bei dem schrecklichen Attentat von Paris im November 2015 seine Frau verlor. Und sein kleiner Sohn seine Mutter. Leiris wurde bekannt durch sein Buch „Meinen Hass bekommt Ihr nicht“. Patricia Hoppe, die Christoph Rickels aus Kassel nach Bestwig begleitete, las zu Beginn der Veranstaltung einige Einträge aus dem Blog von Antoine Leiris vor.
Tendenz zu mehr Egoismus
Christoph Rickels handelte ähnlich. Er resignierte nicht und begann über das Geschehene zu reden. Er will, dass andere daraus lernen und gründete das Netzwerk „First togetherness“, in dem er das Miteinander cool machen will. „Warum wollen heute so viele die Besten sein? Am besten sind wir nur alle zusammen“, wirbt Rickels für seine Idee. In der Gesellschaft sieht er eine gefährliche Tendenz zu immer mehr Egoismus. Dagegen will er etwas unternehmen.
Rückblickend staunt der 31-Jährige selbst, wie schnell das ging. Bei prominenten Unterstützern lief er offene Türen ein. Heute ist er sogar ganz offiziell Botschafter der Bundesregierung für Toleranz und Demokratie. Er erfuhr höchste politische Ehrungen. Und den Durchbruch für die Bekanntheit seines Netzwerkes erreichte er bei der Auszeichnung zum „Helden des Alltags“, die die Fernsehzeitung „auf einen Blick“ jährlich auslobt. Den Besuchern in der Dreifaltigkeitskirche zeigte er einen langen Ausschnitt daraus. „Das war soooo toll“, sagte er, ohne sich selbst dafür zu sehr loben zu wollen. Denn eigentlich sei er doch unbedeutend. Aber bei der Gala habe er viele Prominente kennengelernt, die ihn seitdem unterstützten.
Gewaltprävention an Schulen
Ein konkretes Projekt seines Netzwerkes ist das Projekt 40-40 in Kassel. 40 Schulen beschäftigen sich eine Woche lang mit dem Thema Gewaltprävention. Dabei geht auch Christoph Rickels in die Klassen und erzählt seine Geschichte, damit die Schüler wissen, was ein einziger Augenblick der Gewalt anrichten kann. „Kinder und Jugendliche wollen cool sein. Also müssen wir das Miteinander cool machen. Wenn der Schläger, der mich niederstreckte, zum Außenseiter wird, ist der nicht mehr cool. Das ist der Weg“, beschriebt Rickels mit einfachen Worten sein Ziel.
Auch das Engelsburg-Gymnasium der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel nimmt an dem Programm 40-40 teil. „In Kassel erreichen wir durch unsere Aktion alle jungen Menschen. Das ist großartig“, sagt Rickels. Und er hofft, dass weitere Städte dazukommen.
Die Zuschauer belohnten seinen lebendigen Vortrag, in dem auch viel Optimismus zum Vorschein kam, mit kräftigem Applaus – und mit einer Spende für sein Netzwerk, die sie am Kirchenausgang abgeben konnten. Schwester Maria Ignatia dankte Christoph Rickels mit den Worten: „Ihr Zeugnis hat uns tief berührt.“