Konvent in der Diaspora: Schwester Ruth Stengel und Schwester Maria Elisabeth Goldmann sammeln spannende Erfahrungen
Die Kinder haben schon einen langen Schultag hinter sich, als sie am Diens-tagnachmittag um 14.30 Uhr mit den kleinen Schulbussen im Pfarrzentrum der Gemeinde St. Johannes Baptist in der Innenstadt von Jena eintreffen. Hier gibt ihnen Schwester Ruth Stengel jetzt gleich katholischen Religionsunterricht. „Es ist nicht leicht, da noch einmal ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Erst recht nicht, wenn schönes Wetter ist und ihre Schulkameraden, die morgens Ethik-Unterricht haben, längst draußen spielen“, sagt Schwester Ruth.
Und trotzdem bereitet ihr die Aufgabe Freude: „Dieser Unterricht ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit in der Diaspora“, weiß die 38-jährige Religionspädagogin und Theologin. Auch in Höxter und in Meschede hatte sie schon als Gemeindereferentin gearbeitet und vor Schulklassen gestanden. Im westfälischen Raum ist das Umfeld noch christlich geprägt. Aber dort drehen sich die Diskussionen oft um Privilegien, die Pfarrgemeinden aufgeben müssen – da die Kirche kleiner wird. Das hat Schwester Ruth miterlebt.
„Volkskirche war ich irgendwie leid“, sagt Schwester Ruth. In der Pfarrgemeinde in Jena ist vieles anders: Die Identifikation mit der Kirche, der Gottesdienstbesuch, das aktive Miteinander. Und die Gemeinde wächst. 17 seit den 60er Jahren gegründete Familienkreise treffen sich in regelmäßigen Abständen, um über Glaubensfragen zu sprechen. Zugleich stellen sie einen wesentlichen Teil des aktiven Gerüsts der Gemeinde dar. „Diese Gesprächsrunden waren zu DDR-Zeiten die einzigen, in denen wir jedem bedingungslos vertrauen konnten“, sagt Günther Golembiewski, Leiter des seit 50 Jahren bestehenden Familienkreises 3 von St. Johannes Baptist. Bis heute präge dieser Zusammenhalt die Gemeinde.
1400 von 6000 Katholiken besuchen sonntags die Gottesdienste. Und wenn Firmung und Erstkommunion ist, zieht die Gemeinde sogar in die doppelt so große evangelische Stadtkirche um. Auch das ist typisch für Jena: Die unkomplizierte Ökumene. Nicht weit von hier in Wittenberg hatte Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlicht und auf der Wartburg die Bibel ins Deutsche übersetzt.
„Eigentlich ist das ein Kernland der Christen“, sagt Schwester Christine Romanow. Doch gerade 20 Prozent der Bevölkerung bekennen sich hier zu dieser Religion, nur sechs Prozent sind katholisch. Es sei nicht einfach, aber doch etwas Besonderes, Gott in dieser Umgebung zu begegnen.
Schwester Christine gehört zur Ordensgemeinschaft der Missionarinnen Christi. Sie lebt seit 2010 in dieser Stadt. Ursprünglich gehörten vier Mitschwestern zu ihrem Konvent. Als zwei bereits andere Aufgaben übernommen hatten, zogen Schwester Ruth Stengel und Schwester Maria Elisabeth Goldmann von den Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel mit in den Plattenbau des Jenaer Stadtteils Lobeda-Ost ein. Dort hatten die Missionarinnen Christi zwei Wohnungen gemietet.
„Hatte gemerkt, dass mir etwas fehlt“
„Mich zog es in die Diaspora. Und weil unsere Gemeinschaft gute Kontakte zum Bistum Erfurt pflegt, hatte ich angefragt, ob ich hier pastoral arbeiten kann“, sagt Schwester Ruth. Zuvor war sie im Paderborner Pauluskolleg für die Ausbildung von Gemeindereferentinnen zuständig gewesen. „Da hatte ich aber bald gemerkt, dass mir etwas fehlt.“
Fast zeitgleich wollte auch Sr. Maria Elisabeth noch einmal einen Aufbruch wagen. „Ich hatte einige Jahre das Noviziat im Bergkloster Bestwig geleitet, war aber schon über 50 und musste mich, obwohl ich gern in Bestwig war, fragen: Will ich noch einmal etwas anderes machen?“ Wenn – das war der ausgebildeten Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin klar –, „muss ich jetzt die Kurve kriegen.“
Die Provinzoberin willigte ein. Beide Schwestern konnten nach Jena gehen. Solche Neuanfänge sind für die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel, die mehr Konvente schließen müssen als eröffnen können, etwas Besonderes.
Schwester Ruth erhielt in der Pfarrgemeinde St. Johannes Baptist eine Anstellung als Gemeindereferentin und Schwester Maria Elisabeth eine Vollzeitstelle in der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas. Seit August 2016 bilden sie mit Schwester Christine einen Dreier-Konvent. „Schnell haben wir gemerkt, dass das spirituell und menschlich gut passt“, sind sich die drei Schwestern einig. Und in die Stadt Jena hatten sich die neu hinzugezogenen Ordensfrauen ebenfalls schnell verliebt.
Auch aufgrund ihrer Kontraste: Das Gemeindezentrum liegt in der Stadtmitte, am Rand der historischen Altstadt. Der Konvent aber lebt inmitten einer Plattenbausiedlung. „Manche Menschen meiden hier den Kontakt zu uns. Im Hausflur habe ich schon beobachtet, wie jemand ganz schnell die Tür zumacht, wenn wir vorbeikommen“, erzählt Schwester Maria Elisabeth.
Ordensfrauen sind den Menschen in Lobeda suspekt. Und Schwester Maria Elisabeth ist die einzige der drei – und damit wohl die einzige Frau in Jena –, die ein Ordenskleid trägt. „Ich spüre, wie ich begutachtet werde. Aber ich freue mich auch, wenn mich jemand darauf anspricht.“
„Trotz dieser Zurückhaltung in unserem Umfeld ist es wichtig, dass wir hier präsent sind“, sagt Schwester Christine überzeugt. „Unser Gebetsraum ist wahrscheinlich der einzige in dieser Plattenbau-Siedlung mit 23.000 Einwohnern.“ Und Schwester Maria Elisabeth fügt hinzu: „Wahrgenommen werden wir hier. Was immer das in den Menschen auslöst, liegt nicht in unserer Hand.“
Einige fragten auf der Straße schon mal: Gehören Sie zu diesem Kloster da oben? „Manchmal kommen Kinder auf uns zu und wollen wissen, ob wir in einer Kirche beten. Die Eltern bleiben oft auf Distanz“, so Schwester Maria Elisabeth. Und für andere seien sie einfach die „freundlichen Frauen aus der fünften Etage“.
Mit Fahrrad und Straßenbahn unterwegs
Mit dem Fahrrad oder mit der Straßenbahn machen sich die drei Schwestern jeden Morgen nach dem Morgenlob, Meditation und Frühstück auf den Weg in die Innenstadt. Das klösterliche Zusammenleben beschränkt sich vor allem auf die Randbereiche des Tages. In ihrem Arbeitsalltag haben sie dagegen mit ganz unterschiedlichen Menschen zu tun.
Schwester Maria Elisabeth hat die Türen ihres Büros in der Regel von etwa neun bis 18 Uhr geöffnet. Die Beratungsstelle der Caritas liegt direkt an der Wagnergasse, einer Fußgängerzone mit quirligen Kneipen und originellen Geschäften. Hier mischen sich die vielen Studenten der Hochschule mit den alteingesessenen Einwohnern Jenas, die Aufstrebenden mit den Perspektivsuchenden, die Reichen und die Armen. „Zu mir kommen Menschen, die nicht wissen, wie es weitergeht. Oft Flüchtlinge. Manche haben finanzielle oder sprachliche, gesundheitliche oder psychische Probleme, andere Leute sind obdachlos oder sehen aufgrund von familiären Sorgen keinen Ausweg“, umreißt Schwester Maria Elisabeth die Klientel.
Ihre Aufgabe sieht sie vor allem darin, eine Erstberatung zu leisten und an Fachstellen weiterzuvermitt eln. „Wichtig ist mir aber auch, ihnen zuzuhören und etwas Hoffnung zu geben. Es gibt längst nicht für alle Situationen Lösungen. Aber ich kann manchen Menschen sagen, dass ich sie mit ins Gebet nehme, dass sie nicht alleine sind. Oft tröstet sie das.“Darin unterscheidet sich ihre Beratung und Begleitung auf jeden Fall von dem Angebot der Arbeiterwohlfahrt, die ebenfalls eine Beratungsstelle hat.
Nur 50 Meter weiter öffnet Schwester Christine in der „Orientierung“ der Missionarinnen Christi Menschen die Tür, die Lebensberatung oder geistliche Begleitung suchen. Das kann auch schon mal eine Professorin sein. „Aber diese Menschen haben vielleicht genauso große Probleme“, weiß die 56-Jährige. Ebenso begleitet sie Menschen, die sich nie mit Religion beschäftigt hatten und dem christlichen Glauben unerwartet begegnet sind. „Sie nähern sich der Kirche ganz unbefangen. Denn im Gegensatz zu Atheisten hatten sie sich ja zuvor nie abgewendet“, erklärt die Gestaltpädagogin und ausgebildete geistliche Begleiterin.
In einigen reife der Gedanke, sich christlich taufen zu lassen. „Diese Menschen differenzieren nicht zwischen Katholisch und Evangelisch. Und dann müssen sie sich für eine Konfession entscheiden“, sagt Schwester Christine nachdenklich. Sie sieht darin ein Hindernis, zumal es in Jena nicht nur Katholiken und Protestanten, sondern noch andere christliche Gemeinschaften gibt. Gemeinsam haben sie in Jena eine ökumenische Charta unterzeichnet. Eine einheitliche Taufe erlaubt die allerdings auch nicht.
Seit Oktober arbeitet Schwester Ruth mit einem kleinen Stellenanteil ebenfalls in der Orientierung mit. Ihr Anliegen ist besonders die Begleitung von jungen Menschen und Studenten. Und eine Etage über der Beratungsstelle der Caritas empfängt Schwester Ruth die Viertklässler nachmittags zum Religionsunterricht. Die Kinder erzählen ihr zwar, dass der Ethikunterricht, den ihre Klassenkameraden am Vormittag haben, langweiliger ist – trotz dem muss sie erst einmal dagegen an arbeiten, dass ihre Schüler nicht zuerst an die verloren gehende Freizeit denken. „Immerhin weiß ich, dass die Eltern voll und ganz dahinterstehen“, sagt Schwester Ruth.
An diesem Nachmittag fehlen drei Schüler, weil sie in der Schule an einem Theaterprojekt teilnehmen. „Eigentlich geht das nicht“, sagt die 38-jährige. Schließlich sei der Religionsunterricht Bestandteil des Lehrplans. Die Schulen aber geben ihm nicht diesen Stellenwert.
Umso mehr freut sich Schwester Ruth, dass Momo wieder dabei ist. Auch sie musste sich zwischen AG und Reli-Stunde entscheiden. Ihren Eltern ist der Religionsunterricht wichtiger. Aufmerksam hört die Neunjährige Schwester Ruth dabei zu, was sie über Abraham, den Stammvater der Christen, erzählt.
Den Kindern fällt es nicht leicht, sich zu konzentrieren, doch beschäftigt sie dieses Thema. Sonst würde Nikita nicht scheinbar zusammenhangslos – vielleicht aber auch nur ein paar Gedankengänge voraus – in die aufkeimende Unruhe hinein fragen: „Schwester Ruth, hat Gott eigentlich schon einmal gelebt?“
„Lebt Gott nicht in jedem von uns?“
Die Antworten der Mitschüler kommen prompt: „Na klar. In Jesus“, meint Lukas. „Ne, aber der war doch nicht Gott „, meint Henriette. Worauf hin Letizia erwidert: „Aber Gott lebt doch in jedem von uns!“
Schwester Ruth staunt über die Antworten, muss aber noch die Hausaufgaben erklären und verspricht: „Darauf kommen wir wieder zurück.“ Hinterher hadert sie: „Das sind doch die Kernfragen: Lebt Gott? Und wo? Auch in Jena? Schade, dass der Unterricht ausgerechnet da zu Ende war.“ Vielleicht hat Gott an diesem Nachmittag um fünf nach vier dasselbe gedacht. Wenn ja, freut er sich sicher auf die Fortführung dieser Diskussion am nächsten Dienstag.