Viele Besucher testen Demenzparcours in Stromberg und Wadersloh
Warum führt meine Hand den Stift jetzt genau in die andere Richtung? Ich versuche das Spiegelbild zu verstehen, in dem ich meine Finger sehe, schaffe es aber nicht, sie entsprechend zu koordinieren. „Manche macht das sogar aggressiv“, sagt Alexander Hauffen. Der examinierte Altenpfleger führt mich durch die zwölf Stationen des Demenzparcours im Haus St. Josef in Wadersloh.
Auf einmal ist das Ziehen einfacher Linien kein Automatismus mehr. Ich muss mich konzentrieren, um die Bewegungsabläufe meiner Hand zu koordinieren. „So ähnlich geht es demenziell veränderten Menschen, wenn sie vor so einer Aufgabe stehen“, erklärt mir der Altenpfleger. „Sie merken, dass das nicht mehr funktioniert. Und wenn es dann noch jemand sieht, ist das doppelt schlimm. Dann geben sie ganz schnell auf und sagen: Das kann ich nicht.“
Insofern hilft der Parcours, diese Wesensveränderung zu verstehen. Entwickelt und bereitgestellt von der evangelischen Stiftung Tannenhof, hatte ihn Einrichtungsleiter Andreas Wedeking in dieser Woche für zwei Tage an das Seniorenzentrum Am Eichenddorffpark in Stromberg und für drei weitere Tage in das Haus St. Josef geholt. Vor allem in Wadersloh war die Resonanz sehr groß, sagt Alexander Hauffen. An allen drei Tagen kamen über 40 Besucher. Darunter Mitarbeiter anderer Senioren-Einrichtungen, Menschen, die das Thema interessiert und Betroffene, deren Angehörige demenziell verändert sind. „Sie wollen das Krankheitsbild verstehen. Und sind nicht selten überrascht.“
Mensch ärgere Dich nicht
So geht es auch mir. An den nächsten Stationen soll ich über ein Spiegelbild Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen oder einen Schuh zubinden. Die Schwierigkeitsgrad ist ähnlich groß wie bei dem Stern. In einer anderen Ecke soll ich Gerüche in sechs Dosen erkennen, die absichtlich falsch benannt sind. In der Karamell-Dose befindet sich ein Mandel-Extrakt, in der Pfefferminz-Dose Watte mit Eukalyptus-Duft. Die falschen Namen irritieren mich, weil die Gerüche, die sie bezeichnen, so ähnlich sind. Nur zwei Düfte errate ich richtig.
Bei derartigen Erfolgserlebnissen kommt mir dieselbe Frage, die nicht wenige Besucher dieses Parcours Alexander Hauffen oder seiner Kollegin, der Betreuungsassistentin Astrid Wendel, stellen: Bin ich selbst schon dement?
Diese Angst können mir die beiden zwar nehmen. Doch betont Einrichtungsleiter Andreas Wedeking: „Genau das ist es, was dieser Parcours bezwecken soll: Uns bei den einfachsten Aufgaben zu verunsichern.“ So erlebten auch demenziell veränderte Menschen den Alltag. Oder, wie es Alexander Hauffen ausdrückt: „Hier erlebt man an zwölf Stationen, wie man scheitert. Das sind wir nicht gewohnt. Dann sind wir frustriert.“ Altersverwirrte Menschen erlebten diese Enttäuschung immer wieder.
Wortfindungsstörungen
So lerne ich in der Versuchsreihe auch, welche Auswirkungen Wortfindungsstörungen haben. Alexander Hauffen zeigt mir 20 Karten mit Begriffen, dazu aber ganz andere Bilder. Drei Minuten bleiben mir, die neuen Vokabeln zu lernen: Der Hut ist auf einmal ein Glas, die Uhr eine Leber, der Kamm ein Tanz. Der Altenpfleger stoppt die Zeit. Dann bittet er mich, fünf Gegenstände herbeizuholen, die er entsprechend der Bilder falsch benennt. Immerhin hier gelingt es mir noch, das soeben Erlernte umzusetzen. Doch spüre ich den Stress, der Demente alltäglich bei solchen Herausforderungen begleitet, wenn sie angestrengt nach Worten suchen. „Hier spielerisch ausgelöst durch falsch zugeordnete Begriffe und eine Reizüberflutung von Bildern“, erklärt Alexander Hauffen.
Als Nächstes soll ich 24 Fotos ordnen. Sie zeigen die Schritte, die nötig sind, um eine Tasse Kaffee zu kochen. Ich kam nur auf fünf Handlungen: Filter einsetzen, mit Kaffee bestücken, Wasser einfüllen, Maschine anschalten, Kanne herausnehmen. Doch führen mir die Fotos vor Augen, dass es viel mehr Schritte sind: Ich nehme die Packung mit den Kaffeefiltern aus dem Schrank, öffne sie, nehme den Filter heraus, falte die Kanten, öffne den Filtereinsatz der Maschine, drücke ihn dort hinein und so weiter. „Für uns ist das selbstverständlich. Ein demenziell erkrankter Mensch muss bei jedem Schritt nachdenken. Dann wird klar, wie schnell er einen Schritt vergessen kann.“
Das überrascht auch die Betreuungsassistentin Bianca Wiemer-Nowak aus dem St. Antonius-Haus in Langenberg: „Wir sind uns gar nicht darüber bewusst, wie komplex viele Vorgänge in unserem Alltag sind.“ Ihre Freundin Brigitta Gausmann-Ruschhaupt ist mit ins Haus St. Josef gekommen. Sie engagiert sich ehrenamtlich als Alltagsbegleiterin im Julie Husmann-Haus in Beckum und stellt fest: „Diese Versuche hier zeigen auch, dass wir Dementen bei unseren Betreuungsangeboten schnell zu viel zumuten, wenn wir nicht aufpassen.“
Gewichte an Armen und Beinen
Die vorletzte Station ist die schwerste – zumindest im wahrsten Sinne des Wortes. Hier legen die Besucher eine zehn Kilo schwere Weste an und binden sich zusätzlich Manschetten an Arme und Beine. „Das macht deutlich, wieviel Kraft alte Menschen gefühlt benötigen, um sich zu bewegen“, erklärt mir Alexander Hauffen. Dazu setzen die Besucher eine Brille auf, die fast alle Kontraste schluckt. So ausgestattet, sollen sie nun eine kleine Runde um einige Hütchen laufen und dazu noch einen Ball schnappen können. „Na, was ist denn? Schon schlapp?“, fragt der Altenpfleger die Probandin Bianca Wiemer-Nowak, die sich sichtlich bemüht. Spaß haben ist in diesem Parcours bei aller Ernsthafigkeit des Themas erlaubt.
Auch die Kinder aus dem DRK-Kindergarten Wunderwelt schauen sich hier an diesem Vormittag um und staunen, wie schwerfällig und fremdartig Bianca Wiemer-Nowak über den Gang läuft. „Das ist für uns vor allem ein Gelegenheit, Kontakt zu diesem Haus zu knüpfen“, erklärt Kindergartenleiterin Britta Wickenkamp. Die DRK-Einrichtung und das Haus St. Josef sind Mitglieder der Lokalen Allianz für Demenz und wollen in Zukunft mehr zusammenarbeiten.
Bezahlen mit der Rauschbrille
Schließlich werde ich zur Kasse gebeten – das ist die letzte Station. Alexander Hauffen setzt mir die „Rauschbrille“ auf. Prima Erfindung, denke ich. Dann brauche ich beim nächsten Schützenfest ja nichts mehr zu trinken. Dazu ziehe ich mir zwei Handschuhe an und soll 3,22 Euro aus dem Portemonnaie holen. Ich kann nicht nur schlecht sehen, sondern auch noch schlecht greifen. Und erinnere mich auf einmal an so manche Situation im Supermarkt, wo eine ältere Dame oder ein älterer Herr an der Kasse stehen, die Schlange hinter sich warten lassen und der Verkäuferin schließlich sagen: „Können Sie sich das Geld einmal herausnehmen?“
Auch die anderen Stationen kämen nah an das Erleben der Dementen heran, ist Alexander Hauffen überzeugt: „Wenn Sie die Sterne sehen, die Sie hier quasi im Spiegelbild ausmalen und die Sterne, die wir demenziell veränderten Menschen vorlegen, sind die sich nicht nur sehr ähnlich. Der Misserfolg löst auch dieselben Emotionen aus.“
Ich habe in dieser einen Stunde eine Menge gelernt. Und ahne auf einmal, was es für einen demenziell veränderten Menschen bedeuten muss, vom eigenen Kind oder einem guten Freund gesagt zu bekommen: „Jetzt stell Dich nicht so an. Das hast Du doch sonst gekonnt.“
Wieviel Sensibilität der Umgang mit diesen Menschen erfordert, hat Astrid Wendel einmal mehr bei ihrer Fortbildung zur Betreuungsassistentin nach § 87 b erfahren: „Wir überfordern diese Menschen schnell. Deshalb müssen wir entdecken, was sie noch können.“ Das erlebe sie zum Beispiel, wenn sie demenziell Erkrankten einen Ball zuwirft oder eine raschelnde Tüte hinhält: „Die Reflexe funktionieren immer noch. Und die Neugier treibt sie an, den Inhalt der Tüte zu erforschen. Dann werden diese Menschen auf einmal gesprächig, ordnen Farben oder zählen Gegenstände.“ Dann seien sie das, was sie im Haus St. Josef sein sollen: zufrieden und glücklich.