Dieses Wort „ganz“ finde ich ganz schön schwierig, besonders wenn es aus dem Munde Jesu kommt. Heute sagt er im Evangelium auf die Frage, welches das wichtigste Gebot sei: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. (…) Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22, 37. 39)
Ich fühle mich eher ganz klein, wenn ich diese großen Worte und den hohen Anspruch dahinter höre. Also „ganz“, das schaffe ich nie, allenfalls halb oder viertel, aber wo ist das Maß?
Immer wieder gehen mir an diesem Tag die Worte Jesu durch den Kopf. Vielleicht liegt der Knackpunkt gerade darin, dass es gar nicht um ein „Schaffen“ geht.
Ich aus mir heraus kann doch gar nicht so lieben, wie es die Worte scheinbar fordern. Fängt der erste Schritt von „ganz“ da an, wo ich meinen Anspruch aufgebe, Gott, die Anderen und mich selbst unbedingt und möglichst gut lieben zu wollen? Vielleicht nehme ich mich einfach mal zurück und übe mich darin, Gottes Liebe zuzulassen, seine Gegenwart in mir und den anderen Menschen ernst und wahr zu nehmen.
Und heute Abend in der dunklen, leeren Kirche, in der nur das ewige Licht und einige Kerzen vor der Mutter Gottes brennen, darf ich ahnen, was der Anfang von „ganz“ sein könnte: Lauschen auf die Stille, die Dämmerung in mich aufnehmen, den Tag ausklingen lassen und nur noch leise sagen: „Ich bin da, ganz einfach da.“
Sr. Ruth Stengel