Im Bergkloster Heiligenstadt blickten fast 100 Ordensfrauen auf die Trennungen und Wiedervereinigungen ihrer Gemeinschaft zurück
Heiligenstadt. Wenn Hans-Gerd Adler an den 30. Oktober 1989 zurückdenkt, überwältigen ihn heute noch die Emotionen: 10.000 Menschen hatten sich damals an einer von ihm mit organisierten Demonstration vor dem Bergkloster Heiligenstadt versammelt und gerufen: „Wir sind das Volk.“ Für den Fall, dass etwas passieren wollte, hielten die Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel die Pforten ihrer Gebäude geöffnet.
Adler referierte am Mittwoch, 1. September, anlässlich des Schwesterntages in Heiligenstadt vor fast 100 Ordensfrauen. Diesmal hieß das Thema „20 Jahre deutsche Einheit“. Ein Thema, mit dem die Geschichte der Ordensgemeinschaft eng verwoben ist. Denn durch die DDR waren die Konvente auf beiden Seiten der Grenze über Jahrzehnte voneinander getrennt. „Eigentlich hatte da niemand mehr an die Einheit geglaubt. Selbst Schwester Renata Maria Eckardt hatte mir erst vor einiger Zeit verraten: ‚Vielleicht war unsere größte Sünde, dass wir da nicht mehr mit Gott gerechnet hatten‘“, berichtete Hans-Gerd Adler. Heute blickt die Gemeinschaft dankbar auf die Ereignisse vor 20 Jahren zurück.
Die Schwesterntage dienen dem regelmäßigen Austausch untereinander zu aktuellen Themen und Fragen. „Sie sind wichtig, denn wir Schwestern sind auf viele Konvente verteilt und wollen uns auch in großer Gemeinschaft erleben und gegenseitig bestärken“, sagt Generaloberin Schwester Aloisia Höing. Da nie alle gleichzeitig können und die Kapazitäten des Bergklosters dafür auch kaum reichen würden, gibt es am Samstag, 4. September, einen weiteren Schwesterntag mit demselben Programm. Dann wird die Phase der Wiedervereinigung erneut lebendig werden.
„Wir verabschiedeten uns so, als würden wir uns abends nicht wiedersehen.“
Mit bewegter Stimme erzählte Hans-Gerd Adler am Mittwoch von dem Moment, wo er sich vor dem Friedensgebet, an das sich die Demonstration auf dem Friedensplatz anschließen sollte, von seiner Frau verabschiedet habe: „Wir verabschiedeten uns so, als würden wir uns abends nicht wiedersehen. Bestenfalls vielleicht im Westen, wenn man mich ausweist, dachte ich.“ Denn er war vom bischöflichen Kommissarius als Redner bei der Veranstaltung auserkoren worden. „Vorher dachten wir: Wenn da 500 Menschen hinkommen, ist das ein Erfolg. Aber während wir in der Sakristei die letzten Absprachen trafen, hatten sich 10.000 Menschen auf dem Platz versammelt.“ Dabei habe Heiligenstadt gerade einmal 17.000 Einwohner gehabt, berichtet der Zeitzeuge noch immer fasziniert.
Natürlich hätte diese Menschenmasse niemals im Bergkloster Zuflucht gefunden, wenn etwas passiert wäre. „Deshalb war die Öffnung unserer Türen auch eher ein symbolisches Zeichen“, weiß Schwester Seraphica Bischoff noch sehr genau. Sie hatte die DDR jahrzehntelang miterlebt, war als Leiterin verschiedener Kindergärten im Eichsfeld und im Kloster als Organistin tätig. Als die Geschichte am Mittwochnachmittag wieder lebendig wurde, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Spontan stimmte sie wieder in die Sprechchöre ein, die als Tondokument von jener Montagsdemonstration erhalten sind: „Wir sind das Volk.“
Nicht die erste Trennung
Es war nicht die erste Trennung, die die Ordensgemeinschaft seit ihrer Gründung vor über 200 Jahren überstanden hatte. Denn Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die deutschen Schwestern zunehmend von den französischen isoliert. Der deutsch-französische Krieg und später der erste Weltkrieg hatten das wechselseitige Misstrauen beider Länder verstärkt und sie zu Feinden gemacht. „Post wurde zensiert und nicht zugestellt, Reisen wurden nicht erlaubt“, erläuterte Generalsekretärin Schwester Theresia Lehmeier, die die Geschichte des deutschen Ordenszweiges am Nachmittag Revue passieren ließ. Anschaulich spielten einige Schwestern auch szenisch nach, was damals passierte. Bis zur Ausweisung der deutschen Schwestern nach Frankreich. Nur der Konvent in Diestedde blieb übrig.
„Aus Heiligenstadt mussten die Schwestern ebenfalls gehen. Sie fanden Zuflucht im französischen Toul. Doch mindestens 60 Familien überließen den Schwestern ihre Kinder, damit sie sie dort weiter ausbilden konnten. Ein unglaublicher Vertrauensbeweis“, urteilte Schwester Theresia während ihrer Rückbetrachtung. Zwar durften die Schwestern einige Jahre später wieder an ihre Wirkungsstätten zurück, jedoch drängte der Paderborner Bischof jetzt umso mehr darauf, sich von der französischen Gemeinschaft zu trennen und selbstständig zu werden. Was 1920 geschah. „Nur so blieb garantiert, dass die Schwestern weiterhin unterrichten durften. Und das war ihnen wahrscheinlich am wichtigsten“, mutmaßt Schwester Aloisia Höing heute.
Viele Parallelen
Schwester Pia Elisabeth, die im Eichsfeld aufwuchs und erst 1996 als Generalassistentin ins Bergkloster Bestwig zog, sagt: „Es ist schon erstaunlich, wie viele Parallelen es durch die Trennung unseres deutschen Ordenszweiges von der französischen Mutterkongregation im Kulturkampf und dann durch die Trennung der beiden deutschen Provinzen nach dem Bau der Mauer gegeben hat. Erst in der Nachbetrachtung wird das deutlich.“ Nach dem Mauerbau hätten auch die Schwestern im Eichsfeld kaum noch an die Wiedervereinigung geglaubt und eine weitere Teilung kommen sehen. Sogar die Generaloberin hatte von Geseke, dem vorübergenenden Sitz des Generalates, nicht mehr in die DDR einreisen dürfen. „Sie musste sich als Krankenschwester tarnen“, berichtete Schwester Theresia. Aber dann folgte der Zusammenbruch des Kommunismus. Inzwischen sind die deutschen Schwestern wiedervereint und auch zur Abtei St. Sauveur-le-Vicomte in Frankreich gibt es heute sehr rege Kontakte.
Hans-Gerd Adler appellierte allerdings dazu, das Bewusstsein über die wiedergewonnene Freiheit aufrecht zu erhalten: „Die Kräfte von ganz rechts und ganz links werden stärker. Dagegen müssen wir uns wehren.“ Und so stellte er abschließend die Frage: „Haben wir uns einander unsere Geschichten erzählt, damit wir uns neu ausrichten und fortan gemeinsam den Weg ‚nach Deutschland‘ beschreiten können?“ Die Begegnungen und der Austausch zwischen den Schwestern aus den unterschiedlichen Landesteilen in Heiligenstadt leisteten einen Beitrag dazu.