Der Sozialpolitiker Karl Schiewerling mahnt beim Placida-Empfang in Heiligenstadt zur Verantwortung und zum Zusammenhalt
In einem engagierten Vortrag schlug der Bundespolitiker Karl Schiewerling am Donnerstagabend vor rund 160 Gästen beim Placida-Empfang im Bergkloster Heiligenstadt den Bogen von den großen Trends der Individualisierung, der Globalisierung und der Digitalisierung hin zu den Folgen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Herausforderungen an die Sozialpolitik: „Wir müssen vor allem jungen Menschen wieder Vertrauen vermitteln und geistige Orientierung geben.“ Das sei auch eine Kernaufgabe der Ordensgemeinschaft.
Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow hatte den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Festredner eingeladen, weil er die Zeichen der Zeit erkenne. So wie Schwester Placida Viel vor 200 Jahren mit der Gründung eines Waisenhauses in Paris für verwahrloste Kinder eine Antwort auf konkrete Nöte gefunden habe, sei die gemeinsam mit den Salesianern Don Boscos betriebene Manege in Berlin-Marzahn eine Antwort auf die Herausforderungen, die sich in diesem Problembezirk der Hauptstadt ergeben. Und Karl Schiewerling hatte sich – auch gegen Widerstände in seiner eigenen Partei – dafür eingesetzt, dass die Projektförderung für dieses Jugendzentrum in eine Regelfinanzierung übergeht.
Leitern in die Grube stellen
Für den Politiker ist klar: „Wenn wir diesen Kindern und Jugendlichen nie eine Chance eröffnen, werden sie auch nie eine Chance haben.“ Er verglich ihre Situation mit dem Leben in einer Braunkohlegrube: „Die zieht einen riesigen Riss in die Landschaft. Aber die Jugendlichen halten die Grube für die ganze Wirklichkeit. Wir müssen dort Leitern hineinstellen, an denen immer dieselben Menschen stehen. Bis die Jugendlichen Vertrauen fassen, auf die erste Sprosse zu gehen.“ Karl Schiewerling sieht darin eine Kernfrage der Sozialpolitik: „Wie können wir die Menschen, deren Eltern bereits mit Sozialhilfe groß wurden, in ein selbstständiges Leben bringen, ihren Teufelskreis durchbrechen?“ Darauf eine Antwort zu geben, stehe der Staat in der Pflicht.
Die zunehmende Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung seien wichtige Faktoren, die diese Probleme verstärken: „Die Individualisierung hat fatale Konsequenzen. Damit wird das niedergerissen, was uns verbindet. Wir sind zurückgeworfen auf uns.“
Gegen die Globalisierung könnten wir uns nicht wehren – „aber sie hat zur Folge, dass mittlerweile nicht nur das Kapital flüchtet, sondern auch die Menschen flüchtig sind.“ Das stelle unsere Gesellschaft ebenfalls vor große Herausforderungen.
Beschleunigung der Entwicklungen
Und die Digitalisierung trage dazu bei, dass das zunehmende Tempo der Entwicklungen immer mehr Menschen abhänge: „Im vorletzten Jahrhundert warnte man noch vor der Zugfahrt von Nürnberg nach Fürth, da man bei 30 Stundenkilometern wahnsinnig wird. Heute können wir vollautomatisch über die Autobahn fahren.“
Dazu käme ein weiterer Trend mit gravierenden Folgen: „Einen, den man seit 50 Jahren präzise vorhergesagt hat, den wir aber nie wahrhaben wollten: den des demographischen Wandels.“ Auch der sei eine große Herausforderung für die Sozialpolitik, da man sich verstärkt um eine wachsende Zahl immer älterer Menschen kümmern müsse. Gleichzeitig warnte Schiewerling aus seiner Sicht: „Und wer meint, dass das durch Zuwanderung zu lösen sei, irrt sich. Das wird so nicht gehen.“
Diese Entwicklungen entfachten Angst. Und sie seien der Nährboden für Populismus. Welche Folgen der habe, lehre schon die Bibel: „Guckt auf die Einflüsterer des Pontius Pilatus, die ihm sagten: ‚Kreuzige ihn‘. Das ist Populismus pur.“ So käme der Schrei nach einfachen Lösungen – „aber die Welt ist zusammengewachsen und kompliziert geworden.“
Orientierung geben
Auf die Frage, was man dagegen setzen kann, antwortet Karl Schiewerling: „Zunächst einmal Ruhe. Darin liegt auch eine wichtige Aufgabe Ihrer Ordensgemeinschaft: sich nicht immer der Welt anzupassen, sondern Orte der Ruhe zu geben, an denen man für sich Orientierung finden kann. Viele Menschen sehnen sich genau danach.“
Und die Sozialpolitik sei gut beraten, sich an die Säulen der Katholischen Soziallehre zu halten, die auch das Grundgesetz prägten: Personalität, Subsidiarität und Solidarität. Da, wo Subsidiarität als Selbstbestimmung und Entfaltung eigener Fähigkeiten nicht gelinge – „wie in Marzahn, wo die Kinder und Jugendlichen nie gelernt haben, eine Struktur in ihr Leben zu bringen und zu einem Abschluss zu kommen “ – hätten die Menschen Anspruch auf Hilfe, um an der Gesellschaft teilzuhaben, Gerechtigkeit zu erfahren und der Armut zu entkommen.
Dabei werde die Definition von Armut und Gerechtigkeit in der Sozialpolitik immer wieder kontrovers diskutiert. „Schon heute sind ein Drittel aller Eltern von Kindergartenbeiträgen befreit, weil sie sich die nicht leisten können. Das finden die anderen Eltern möglicherweise nicht gerecht. Aber wäre es deshalb gerechter, alle von den Beiträgen zu befreien?“ Die Frage nach Leistungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Teilhabegerechtigkeit oder Bedarfsgerechtigkeit führe zu unterschiedlichen Antworten.
Und genauso gebe es verschiedene Definitionen von Armut – „wobei die Frage nach materieller Armut noch einmal eine andere ist als die von sozialer Armut“, so Karl Schiewerling. Vor diesem Hintergrund mahnte der Sozialpolitiker davor, die „Keimzelle unserer Gesellschaft, die Familie“, besser zu schützen. Im achten Sozialgesetzbuch für die Kinder- und Jugendhilfe seien zwar Mutter, Vater und Kind einzeln geschützt – „jedoch vermisse ich den Schutz der Familie als Ganzes.“
Erziehung ist Sache der Eltern
Familienpolitik sei nicht loszulösen von Sozialpolitik und Sozialpolitik nicht machbar ohne Bildungspolitik. Gleichzeitig stünden Eltern in der Verantwortung, ihre Kinder zu erziehen und diese Erziehung nicht nur den Kindertagesstätten und Schulen zu überlassen: „Denn Sozialpolitik kann nicht alle Probleme lösen, die in den Familien begonnen haben.“ Das sei Aufgabe der Eltern, aber auch unserer Gesellschaft – „und es ist zum Beispiel eine Aufgabe der Kirchen, auch Ihrer Ordensgemeinschaft, darauf hinzuweisen.“
Es sei erfreulich und wichtig, dass kirchliche Träger Verantwortung übernähmen für Einrichtungen wie die Manege in Berlin-Marzahn. Davor scheuten sich die Kommunen: „Dort tun Sie als Ordensgemeinschaft mit Ihren Mitarbeitern genau das, was notwendig ist: Sie geben Vertrauen, Halt und geistige Orientierung.“ Diese Arbeit könne man eigentlich nur mit einem bestimmten Menschenbild leisten: einem christlichen Menschenbild.
Schwester Maria Thoma dankte Karl Schiewerling für den lebendigen Vortrag, der die Ordensgemeinschaft in ihrem Tun ermutige, aber auch hinterfrage. Und auch, wenn die Zuhörer nicht alle seiner Standpunkte bedingungslos teilten, so war dem Sozialpolitiker eins auf jeden Fall gelungen: Impulse für eine lebendige Diskussion zu setzen. Die dauerten am Donnerstag noch bis in den späten Abend an.