Schwester Maria Ignatia Langela SMMP, geboren 1945, studierte nach ihren Ordenseintritt Mathematik und Physik und erwarb später die kleine Fakultas in katholischer Religion. Sie war viele Jahre als Lehrerin sowie als Schulleiterin am Engelsburg-Gymnasium in Kassel tätig. Im Anschluss leitete sie von 2006 bis 2010 das Elisabeth-Gymnasium in Halle. Seit ihrer Pensionierung ist sie Bildungsreferentin im Bergkloster Bestwig.
Hier schildert sie Begegnungen an zwei ganz verschiedenen Orten: In Einzelepisoden lässt sie exemplarische Situationen im säkularen Kontext der Stadt Halle an der Saale aufblitzen. In einer Welt, die Evangelium und Christentum kaum mehr kennt, bringt die Ordensfrau diese in neuer Weise ins Spiel. Wie wichtig auf der anderen Seite Klöster als gastfreundliche „Geistliche Orte“ sind, zeigen die Rückmeldungen der Gäste des Bergklosters in Bestwig, die im dritten Teil dieses Beitrags zu Wort kommen. Die Rolle der Ordensfrauen als Gastgeberinnen ist hier eine völlig andere.
+ Halle an der Saale
Halle hat 220.000 Einwohner, davon 90% Nicht-Christen, 6,7% evangelische Christen und 3% Katholiken. Die christliche Schule, die ich zu leiten hatte, fand sich in diesem Umfeld. Es war für mich eine Herausforderung, die Schule zusammen mit vielen nicht getauften Kollegen zu gestalten. Haben Letztere das Gefühl, bei uns „richtig“ zu sein, und sind sie in der Lage, ihren spezifischen Beitrag zu einem Dialog von Christen und Nichtchristen zu leisten? Der Magdeburger Altbischof Leo Nowak hatte die Schulen in diözesaner Trägerschaft bei ihrer Gründung konzeptionell als Schulen für alle Menschen der Region gewollt. „Auf Augenhöhe“ sollten Katholiken, evangelische Christen und Nichtchristen über existenzielle Fragen miteinander ins Gespräch kommen. Deshalb ist die Zusammensetzung in der Schülerschaft – (etwa) ein Drittel katholisch, ein Drittel evangelisch, ein Drittel nicht getauft – bewusst gewollt.
Eine Erfahrung, die mich bis heute berührt, war der außergewöhnliche Wunsch einer Kollegin, deren Mann mit 43 Jahren an Krebs gestorben war.
In einer großen, überfüllten Friedhofshalle habe ich für den konfessionslosen Ehepartner die Trauerfeier gehalten. Da ich in dem altgallischen Choral „In paradisum“ die drei Bilder fand, in denen meine Kollegin ihre Hoffnung für ihren Mann, ihren dreijährigen Sohn und für sich ausdrückte, habe ich einen (konfessionslosen) Musikkollegen gebeten, diesen Choral als integralen Bestandteil meiner Trauerrede und noch einmal am Grab, während die Urne in die Erde gesenkt wurde, zu singen.
Man spürt, dass diese alten Gesänge, mit denen Menschen über 1300 Jahre beim Sterben oder auf dem Weg zum Grab begleitet worden sind, in jedem Menschen unabhängig von seinem Lebenskonzept Tiefen ansprechen können. Es ist ein wichtiger Dienst der Kirche, jedem Menschen, der das wünscht, unsere geistlichen Räume, Lieder und Gebete anzubieten. Wir wollen diesen Reichtum nicht für uns behalten, sondern ihn teilen. Für eine kleine Zeitspanne – eine Stunde, acht Jahre – mögen sie sich bei uns zu Hause fühlen und in ihrem Innersten zu sich selbst finden. Selbst das Vaterunser, von vielen auf meine Einladung hin mit gebetet, gehört zu unserem Kulturgut, das wir unbedingt pflegen müssen. Beim Aaronsegen über der Urne am Schluss der Feier hätte man eine Stecknadel fallen hören
können.
+ En-passent-Erfahrungen in Halle
Taufe, was ist das?
Ich gehe um 17:00 Uhr von der Schule zur Straßenbahn. Zwei Mädchen (A und B) im Alter von 13 bis 14 Jahren kommen mir entgegen. Sie verlangsamen ihren Schritt, ich auch. Sie bleiben stehen, ich (I) auch.
A: Sie sind doch Nonne. Dürfen wir Sie mal fragen, was das ist, Nonne?
B: Da musst du getauft sein. Ich möchte mich irgendwann taufen lassen.
A: Ich weiß nicht. Taufe, was ist das?
B: Ein Mann – wie heißt der noch? – macht ein Kreuz auf die Stirn und sagt dazu etwas.
I: Der Mann heißt Priester oder Pfarrer. Er gießt dabei Wasser über den Kopf und sagt: Ich taufe dich im Namen des … Wichtig ist, dass man sich vorher überlegt, ob man als Christ leben möchte.
A: Stimmt das, dass man als Nonne nicht heiraten darf? Und was machen Sie, wenn Sie sich dann doch verlieben?
I: Auch jeder, der heiratet, kann in die Situation kommen, dass er sich in einen anderen Menschen verliebt. Dann muss man sich entscheiden, ob man dem Menschen treu ist, dem man versprochen hat, mit ihm ein ganzes Leben lang zusammen zu sein.
B: Jetzt müssen wir gehen.
Meine Straßenbahn war natürlich weg.
Köpfen
Ein vierzehnjähriger Junge kommt mir mit rasanter Geschwindigkeit auf seinem Fahrrad entgegen und ruft „Satan!“, wobei er mir ein Victory-Zeichen entgegenstreckt. Krasser: Ich wollte in einen Bus steigen. Drei Jungen im Alter von 15 oder 16 Jahren sitzen auf dem Boden, schwarz gekleidet, Bierflaschen in der Hand. „Jesus ist Scheiße“, rief mir einer zu. „Mir hat er auch noch nicht geholfen“, der andere. Der dritte streckte den rechten Arm aus, zeigte auf mich und machte mit dem linken eine Bewegung „köpfen“.
Vaterunser vom Spickzettel
Unser Gottesdienst zur Einschulung: Der katholische Priester empfängt und begrüßt uns im großen Vorraum der Kirche. Manche Schüler haben noch nie eine Kirche von innen gesehen. Der Pfarrer erklärt, warum er ein Gewand trägt und erläutert die einzelnen Teile beim Anziehen. Die Bedeutung der Messdiener wird unterstrichen, indem sie eine Kerze bekommen und die nun folgende Prozession in die Kirche anführen. Wir werden aufgefordert, unseren Blick in das hohe Gewölbe zu erheben, wobei der Pfarrer erklärt, warum die Menschen vor 600 Jahren so gebaut haben und was das mit Gott zu tun hat. Wir hören einen Text aus der Bibel, singen Lieder und beten das Vaterunser, das auf dem Zettel abgedruckt ist.
Aus Nichts ein wunderschönes Essen
Zwei Mädchen aus der Klasse 9 hatten mich in der Straßenbahn gefragt, ob ein Kochkurs angeboten werden könne. Da die Bestimmungen für die Schulküche das nicht erlaubten, habe ich ihnen angeboten, in meiner Küche ein Dreigangmenü für meine Gäste zu kochen. Als ich sie fragte, wie viel Geld ich ihnen zum Einkaufen mitgeben solle, antwortete T. schüchtern: „10 Euro?“ „Das darf für sechs Personen ruhig etwas mehr kosten“, meinte ich darauf. T: „Wir haben fünf Kinder zu Hause und meine Mutter kann aus Nichts ein wunderschönes Essen zaubern, für drei Euro. Kräuter kann ich aus unserem Garten mitbringen.“ Halle fühlte sich anders an als Kassel. Ärmer, im Umgang unmittelbar und sehr hilfsbereit, bei Zumutungen souverän und nicht klagend.
Gregorianik für (H)alle
Straßenbahn-Bekanntschaften hatten manchmal überraschende Kontinuität. Immer mal hatte mich eine Dame angesprochen mit diversen Fragen über Kloster, Gott und die Welt. Manchmal gingen wir zusammen von der Straßenbahn zu unseren Schulen (sie arbeitete nebenan in einer Schule für Behinderte). „Ich habe den ganzen Katechismus gelesen und habe noch viele Fragen. Hätten Sie vielleicht mal etwas mehr als 15 Minuten Zeit?“ Wir verabredeten uns, und so haben wir einen langen Abend miteinander verbracht. Es stellte sich heraus, dass sie schon viele unterschiedliche Wege ausprobiert hatte und sich nach schlechten Erfahrungen nicht auf Dauer binden wollte. Sie interessierte sich für gregorianische und mittelalterliche Musik. So haben wir den Plan entworfen, eine Initiative zu starten: „Gregorianik für Nicht-Getaufte“ oder „Gregorianik für (H)alle“. Ich finde es faszinierend mit Menschen, die das wollen, die heilende Wirkung des Christentums zu teilen. Oft erfahren wir, dass Menschen durch Kirche verletzt sind. Dass die Zeichen, Symbole und Riten, die Kunst und die Musik heilend wirken können, wird kaum vermittelt. Wenn ich in Halle geblieben wäre, wäre unsere Vision vielleicht geerdet worden.
Bettler sind wir alle
Ich stand am Rannischen Platz und wartete auf die Straßenbahn. Ein etwas älterer Mann, offensichtlich ein sehr bedürftiger Mensch, kommt geradewegs auf mich zu, in seinen Händen eine Schale mit Mandarinen. Mit seiner schmutzigen Hand streckt er mir eine Mandarine entgegen. Ich will abwehren, schaue mich instinktiv um – anscheinend ist es mir peinlich, von Schülern gesehen zu werden, – und kann seinen flehenden leuchtenden Augen nicht widerstehen. Von einem Bettler etwas anzunehmen, erzeugt in mir das sehr intensive Gefühl: Bettler sind wir alle. Die Straßenbahn kommt, ich steige ein. Nächste Station Taubenstraße – „meine“ Haltestelle. Etwas verwirrt steige ich aus und gehe tief berührt nach Hause. „Habe ich geschenkt bekommen“, hatte der Bettler mit einem Blick auf die Mandarine gestammelt. Übrigens: Ich habe noch nie in meinem Leben so genussvoll und dankbar eine Mandarine gegessen.
„Du, weißt du, ob meine Mutter getauft ist?“
Am Elisabeth-Gymnasium werden Aufnahmegespräche mit den Eltern und Kindern geführt. Wenn ich auf den Fragebogen schaute und bei Konfession einen „Strich“ sah, habe ich oft Folgendes erlebt. Ich fragte die Eltern: „Sind Ihre Eltern (also die Großeltern der Kinder) getauft?“ Dann schauten sich die Beiden ratlos an: „Du, weißt du, ob meine Mutter getauft ist?“ – „Ich glaube, deine Mutter ist nicht getauft. Hm, doch! Früher ist sie Weihnachten in die Kirche gegangen und manchmal hat sie auch gebetet.“ Sr. Maria Ignatia: „Warum hat Ihre Mutter Sie nicht taufen lassen?“ „Glaube war kein Thema in der DDR, Glaube kam nicht vor.“
Sinn-Vakuum
Deutschland-Ost ist das einzige Gebiet Europas und wahrscheinlich der Welt, in dem die Unreligiösen eine solche große Mehrheit stellen. Areligiöse Menschen sind keine Atheisten, da sie keine Position bezüglich der Gottesfrage einnehmen, und auch keine Agnostiker, die sich in dieser Frage aus bestimmten Gründen enthalten, sondern Menschen, die an der Abstimmung, ob es zum Beispiel Gott gibt oder nicht, schlicht nicht teilnehmen, weil sie zumeist gar nicht verstehen, worum es bei dieser Frage überhaupt gehen könnte. Eine ostdeutsche Studentin antwortete, als sie gefragt wurde, ob sie sich als Christin, als religiös oder als areligiös einstufen würde: „Ich weiß nicht, ich bin – normal.“ Nach dem Scheitern der marxistisch-leninistischen Weltanschauung wurden im Osten Deutschlands verschiedentlich ein Sinn-Vakuum und eine Orientierungskrise befürchtet, von manchen vielleicht sogar erhofft. Im großen Ganzen gesehen ist dieser Fall nicht eingetreten. Auch ohne Gott lässt sich gut leben: „Wir sind areligiös und wollen es bleiben“. Auch die sogenannten „Grenzsituationen“ wie Krankheit und Sterben bilden keinen Anlass zu religiöser Ein- und Umkehr. Not lehrt nur den beten, der schon beten gelernt hat. Ostdeutsche sind nüchterne Pragmatiker.
Eine bekenntnislose Mutter wollte ihre Tochter anmelden. Ich fragte sie: „Was ist Ihnen persönlich wichtig?“ „Immer etwas anderes“, sagte sie. „Je nach Situation. Wenn ich krank bin, ist mir Gesundheit das Wichtigste. Wenn meine Beziehung labil ist, ist mir die Liebe am wichtigsten. Wenn mein Arbeitsplatz gefährdet ist, ist mir die Sicherheit meines Arbeitsplatzes am wichtigsten.“ Ich frage mich: Wird eine solche relativistische Haltung im Ernstfall tragen?
Wie antwortet die katholische Kirche auf diese Situation? In Halle habe ich das Konzept einer Dialogschule lieben gelernt. Katholische und evangelische Christen und Bekenntnisfreie sind auf Augenhöhe im Dialog miteinander. Das war die Vision von Bischof Nowak und Anderen, die diese Idee nach der Wende (1991) geboren haben.
Es ist eine herausragende Aufgabe, junge Menschen in existenziellen Fragen dialogfähig zu machen. Wo gibt es verlässliche Orte für junge Menschen in einer Stadt, wo das möglich ist und gepflegt wird? Ich habe sie in Halle nur am Elisabeth-Gymnasium kennengelernt. Es ist ein wichtiger Dienst, ein großartiger Dienst der katholischen Kirche in der Gesellschaft und für die Gesellschaft, einen solchen Ort anzubieten, wahrhaft eine einzigartige Diakonía im Bildungsbereich.
Wir Christen, speziell wir Ordensfrauen, haben eine Wächteraufgabe in der Gesellschaft, damit die christlichen Werte nicht einfach „wegrutschen“, damit die Fremdheit und Zumutung des Evangeliums nicht an die Gesellschaft angepasst werden, damit die Faszination der christlichen Botschaft nicht säkularisiert wird.
In Halle zu sein, in dieser gebrochenen Stadt, und diese katholische Schule als Ordensfrau mitzugestalten und als Schulleiterin Prozesse der Profilierung zu steuern, war für mich als Schwester der heiligen Maria Magdalena Postel eine faszinierende Aufgabe.
+ Im Bergkloster in Bestwig
Seit meiner Pensionierung 2010 lebe ich im Bergkloster im Sauerland und bin für Gäste zuständig. In der Regel gehe ich einmal am Tag in den Speiseraum. Manchmal dehnt sich so das Frühstück um eine Stunde aus oder die Kerzen auf dem Abendbrottisch entfalten langsam ihre Wirkung, wenn es dunkel wird. Die Gespräche, die dabei entstehen, schätzen unsere Gäste und ich auch: Man muss sich nicht anmelden, nichts bezahlen. Plötzlich und unverfügbar werden aus Treffen Begegnungen. Ich möchte einige unserer Gäste zu Wort kommen lassen, die nach ihrem Aufenthalt in unserem Kloster von ihren Erfahrungen berichtet haben:
Die Seele ist müde
Im vergangenen Jahr war ein junger Mann, 40 Jahre, drei Wochen bei uns. Im Januar hatte er einen Schlaganfall bekommen und spürte eine totale Entwurzelung: Glaube und Kirche waren seit 20 Jahren ganz weit weg. Die berufliche Perspektive war offen, seine Partnerschaft gefährdet. Er schreibt:
„Warum geht man ins Kloster? Warum fährt man nicht irgendwo in den Süden, erklimmt die Berge oder legt sich in die Sonne? ‚Du musst dich mal ordentlich gehen lassen‘, sagten einige Mitmenschen. Ja ist es denn das, was wir Menschen in einer Zeit brauchen, die wir nicht mehr kontrollieren können? Wir haben eine technische Leistungsgesellschaft geschaffen, die gegen unsere Natur ist. Wie Prof. Byung-Chul Han in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ schreibt: Es ist ein Zuviel an positiven Informationen, die tagtäglich auf uns einfließen.
Also geht man so lange weiter, bis der Körper aufgibt. Der Körper und der Geist geben auf. Die Seele ist müde. Die Dinge könnte man ändern, aber diese Menge an Informationen sprengt unsere Seele. Wir werden gleichgültig. ‚Ach‘ ein neuer Krieg im Nahen Osten.‘ Attentate oder andere schlimme Ereignisse machen uns nichts mehr aus. Wir schauen uns die Bilder im Fernsehen an. Hören die Meldungen im Radio. ‚Schlimm, ja schade. Gott wo bist du?‘ Aber er ist da. Oder doch nicht. Nicht er ist böse zu uns, wir sind es selber. Ich fragte ihn ‚Warum?‘ und er hat mir geantwortet. Er sendete mich ins Kloster. Ich kannte noch nicht einmal den Ort.
Im Wald boten sich mir zwei Wege dar,
und ich nahm den, der weniger betreten war.
Und dies änderte mein Leben.
Man betritt einen Pfad, der uns an einen Ort bringt, den wir fast vergessen haben: Unser Glaube, zurück zu den Wurzeln unseres Lebens. Es sind die Menschen an diesem Ort, denen es in die Obhut gelegt wird, Menschen zu begegnen. Er hilft, indem er uns von dieser tagtäglichen Last befreit.
Warum ich Ihnen das schreibe? Jetzt kommen Sie ins Spiel. Ein Lächeln. Kein Tadel. Ernste Gespräche, Besinnung. Sie waren mein Schiff auf der rauen See. Es geht wieder zurück. Anfangs mit viel Angst. Mittlerweile mit Respekt vor der Arbeit der Menschen, die alles nicht mehr so hinnehmen, wie es ist. Wenn was verändert werden muss, dann ist es nicht die Welt. Jeder Mensch, der gelebt hat, soll diese Welt ein wenig besser machen. Im Kleinen. Dann wird was Großes rauskommen. Und Sie waren der Rettungsanker in dieser Zeit des Dunklen. Uns zu begleiten zurück zu dem, was wir sind. Und das ist es, was er uns sendet. Gott sendet uns Menschen, wirkt durch Menschen.
Letzten Dienstag war ich wieder bei meiner Klavierlehrerin. Sie sagte mir, wenn ich so weiter mache, wird ja noch ein Konzertpianist aus mir. Anfangs dachte ich, sie wolle mich aufbauen. Aber als ich ihr sagte, dass ich das schon schaffe, kam die Antwort: ‚Ich meine das ernst.‘ Und Gott meint das auch ernst, wenn er mir Menschen sendet. Das habe ich jetzt verstanden. Menschen wie Sie. Menschen wie meine Tischnachbarn oder die lustige Wandertruppe (…).“
Es ist – intensiv
Herr X kam morgens in den Frühstücksraum. Groß und schlank, barfuß, mit langen Haaren. Er brauche nur Stille, wolle lesen. Am zweiten Tag sprach er von seiner Klause (eine einfache Unterkunft in einem ehemaligen Einfamilienhaus auf dem Klostergelände). Er sei nicht getauft, erzählte er am Tisch, nahm teil am Pilgertag. Im Frühjahr 2013 schreibt er:
„Hallo, Schwester Ignatia, ein halbes Jahr ist es nun her, dass ich eine Woche Auszeit bei Ihnen im Bergkloster nahm – eine schöne, wichtige Zeit – und es hat sich zwischenzeitlich einiges Neues ergeben. Im Haus Birkenwinkel hatte ich die vier Evangelien des neuen Testaments gelesen, nicht wenige Passagen davon zum ersten Mal, also so richtig im Original. Wieder in Gelsenkirchen angekommen dauerte es nicht lange, da wies meine Partnerin auf eine Schlagzeile im Internet: „Jesus gesucht!“ Elmar Rasch, ein Gelsenkirchener Schauspieler und Theatermacher, kündigte an, Passionsspiele realisieren zu wollen, und zwar in der evangelischen Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen, der ich durch meine Arbeit als Grafiker bereits seit längerem verbunden bin. Meine Partnerin sagte prompt: „Da stellst Du Dich vor!“ und schickte mich zum Casting. Ich sprach dort vor, ohne besondere Erwartungen, doch am Ende reichte mir der Regisseur tatsächlich die Hand und hieß mich als Darsteller des Jesus Christus im Team Passion willkommen. Unglaublich. Wundersam.
Die letzten Monate standen ganz im Zeichen der Proben. Schritt für Schritt arbeiteten wir, etwa 30 Laiendarsteller, uns in die Geschichte hinein. Ein tolles Team ist das übrigens, alle Beteiligten wachsen in irgendeiner Art über sich hinaus. Ich selbst habe bisher überhaupt keine Theatererfahrung und stehe das erste Mal auf einer Bühne. Und dann gleich eine solche Rolle. Immer wieder schlüpfe ich seitdem in die Rolle (und in die Sandalen) des Menschensohnes, werde von Johannes dem Täufer getauft, heile einen Blinden, treibe die Händler aus dem Tempel, werde schließlich verraten, gefangen genommen, gegeißelt und ans Kreuz geschlagen. Es ist – intensiv! Am kommenden Montag haben wie Generalprobe und am darauffolgenden Mittwoch feiern wir Premiere. Bis zum 1. April soll es insgesamt 15 Aufführungen geben. Ja, das Leben … es hält immer Besonderes bereit.“
Heilig
Ich bin fest überzeugt: Unser Kloster hier auf dem Berg ist ein Kraftort. Gerade unsere älteren Schwestern leben ihre Berufung, die Welt im Gebet zu umarmen, leidenschaftlich und oft mit letzter Kraft. Keine Methode und keine Professionalität kann Wunder wirken wie die, die hier geschehen. Abschließend möchte ich Auszüge aus der Mail einer Frau bringen, die bei uns zu Gast war:
„Bis zu meinem 50. Lebensjahr wusste ich nicht viel über das Christentum. Ich bin ohne Religion aufgewachsen und fühlte mich eher zum Buddhismus hingezogen. Nach Jahren der Krankheit und einer neuen, für mich schwierigen Lebenssituation hatte ich mich auf die Suche nach dem Sinn meines Daseins und nach „meinen Dämonen“ gemacht. Meine spirituelle Freundin hatte mich zu einigen schamanischen Sitzungen, zur Meditation und schließlich auch ins Benediktinerinnenkloster in Fulda mitgenommen.
Ich lebte zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren mit meinem Mann und dessen beiden Töchtern zusammen; die Töchter waren im Alter von 15 und 17 Jahren bei uns eingezogen. Vorher waren mein Mann und ich zehn Jahre lang – bis auf die Wochenenden oder in den Ferien – zu zweit gewesen. Ich musste lernen, Liebe und Zuwendung zu teilen. Ich wollte mich vorrangig von den Strapazen meines „Mutter-Daseins“ erholen, als ich mich im Frühjahr 2012 erneut für einen Klosteraufenthalt entschied, aber daneben meiner Suche „nach dem Göttlichen in mir“ nachgehen: „Warum hat Gott uns die Fähigkeit zum Denken/ Reflektieren gegeben?“ „Wer oder was ist Gott für mich?“ „Haben nicht alle Religionen auf der Welt dasselbe Ziel, sehen aber den Weg dorthin unterschiedlich?“ „Liegt der Sinn des regelmäßigen Gebets nicht darin, täglich für eine Zeit inne zu halten, um sein Handeln zu hinterfragen?“ Und: „Ist Beten nichts anderes als Meditation?“ Vor allem: „Wie kann ich mich selbst dort wieder finden?“
Im Bergkloster angekommen wurde ich freundlich empfangen. Mein Zimmer war groß und hell, mit Blick auf die Ruhrtalbrücke. Ich fühlte mich sofort wohl. Schwester Ignatia kam jeden Tag, meist abends, zu uns an den Tisch; einmal verlängerten wir unser Abendbrot mit einem gemütlichen Beisammensein zu viert in einem Wohnzimmer nebenan. Wir sprachen über bewegende Dinge, wir weinten – aber wir lachten auch viel. Abends besuchte ich regelmäßig den Klosterfriedhof. Alle diese Frauen hatten ihr Leben dem Dienst am Menschen gewidmet. Selbstlos, unter Verzicht auf materiellen Besitz und eine bestimmte Art von Freiheit. Hier fand ich Ruhe.
Wenn ich von meinen Wanderungen zurückkam, freute ich mich auf die Gesellschaft und den gedeckten Tisch. Ich nahm, wenn möglich, am Mittagsgebet teil, wenigstens aber an der Vesper. Ich liebe es, dem bedächtigen Hereinkommen der Nonnen beizuwohnen und ihre Gesänge zu hören. Zu sehen, wie sie sich – meist auf denselben Platz – in die Stille setzen und warten. Die Gleichmäßigkeit des Ablaufs, die ständige Wiederholung, der Rhythmus besitzen etwas ungemein Beruhigendes für mich.
Während einer meiner vielen Wanderungen entdeckte ich zwischen Bäumen hindurch ein riesiges, hölzernes Kreuz auf einer erneuten Anhöhe. Da wollte ich hin! Oben angekommen staunte ich über die Größe des – nachts beleuchteten – kolossalen Kreuzes. Da mir beim Blick in den Himmel ob der ziehenden Wolken schnell schwindelig wurde, legte ich mich kurzerhand ins Gras. Ich streckte meine Arme zu beiden Seiten aus und dachte, dass ich in dieser Position wohl eins mit dem Kreuze sei. Und wie ich so dalag, durchströmte mich eine große Wärme, gefolgt von einem Gefühl von Frieden, Geborgenheit und Angenommen sein, wie ich es vorher noch nie empfunden hatte. Ich fühlte mich verbunden, verbunden mit der Welt, mit dem All. Abends erzählte ich Schwester Ignatia von meinem Erlebnis. Sie schaute mich tiefsinnig an, freute sich für mich und ermutigte: „Einfach zulassen und wahrnehmen, was geschieht. Ich denke an Sie.“
Auf meinen Wanderungen fühlte ich mich auf unergründliche und mir unbekannte Weise stets sicher, beschützt. Als würde die schützende Hand des Klosters bis weit über seine Grenzen hinausreichen. So traute ich mir zunehmend größere Wanderung zu. Ich lief Stunden durch Wälder und Felder, bergauf und bergab. Wie schön die Welt doch war! Beinahe wäre ich an einen kleinen Seitenweg vorbei gelaufen, dann aber zog es mich dorthin. Am Ende des Weges stand ein etwa 1,50 Meter hohes Holzkreuz mit Jesus, darunter auf einer Tafel: „Willst Du sehen Gottes Spur, dann schau’ Dich um in der Natur. Willst Du Gott noch näher sehn, bleib’ an diesem Kreuze stehn“. Ich las und brach unmittelbar in Tränen aus. Ja, ich sank sogar in die Knie und ich glaube, dass ich das erste Mal in meinem Leben so etwas wie gebetet habe. Dieses Erlebnis war so tiefgreifend, dass ich es zunächst für mich behalten wollte. Ich hatte Sorge, dass ich es verlieren könne, wenn ich es in Sprache „verwandeln“ würde. Auch jetzt, wo ich es niederschreibe, begleitet mich ein Gefühl von Unbehagen. Keine Worte vermögen auszudrücken, was dort mit mir geschehen ist. Es ist mir – im wahrsten Sinne – heilig.”