Im Julie-Postel-Haus erhalten überforderte Eltern die letzte Chance, das Zusammenleben mit dem eigenen Baby zu lernen.
Anja Z. (Name geändert) weiß: „Ich bin kein Engel. Ich bin nicht umsonst hierher gekommen. Aber jetzt darf ich mit meiner Tochter Alice nach Hause. Das ist für mich das Wichtigste.“ Das Jugendamt hatte ihr das Baby schon wenige Tage nach ihrer Geburt im Juli 2012 weggenommen. Der Grund: Kindesgefährdung. Das ließ sich die 30-Jährige nicht gefallen. Der Kompromiss: Ein gemeinsamer Umzug ins Julie-Postel-Haus nach Bestwig.
Das Wohnheim der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel im Bergkloster Bestwig ist gerade komplett umgebaut worden und hat sich ganz auf das Eltern-Kind-Wohnen spezialisiert. 16 junge Eltern können hier mit ihren Kindern leben. „Dabei geht es uns nicht darum, den Müttern oder jungen Vätern aufzuzeigen, wie sie mit ihrem Kind zusammen leben und gleichzeitig wieder auf eigenen Beinen stehen können. Vor allem geht es darum, den Kindern eine Mutter beziehungsweise einen Vater zu geben“, sagt die Leiterin des Hauses, Ursula Jenke.
Das ist auch das Bestreben der Jugendämter. Eine langfristige Unterbringung soll möglichst vermieden werden. Stattdessen ist eine angenommene engmaschige Hilfe zur Selbsthilfe die Basis für den Auszug von Mutter und Kind.
Anja Z. stand im Verdacht des Alkoholmissbrauchs. Sie hat schon zwei Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht sind, eins davon schwer behindert. Aber sie ist älter geworden. Sie hat dazugelernt und mit ihrem neuen Partner Stabilität gefunden. „Papa kann meine Tochter Alice zurzeit nur selten sehen. Aber er ist der einige Mann, den sie anlacht. Auch er liebt seine Tochter“, versichert die gebürtige Polin, die früher als Saisonarbeiterin in Deutschland gearbeitet hat. 2001 zog sie endgültig hierher.
Der Bedarf steigt – und die Biografien sind immer extremer
Diese Vorgeschichte ist eher noch harmlos. Ursula Jenke hat da per Mail schon wieder eine ganz andere Anfrage erhalten: Es geht um zwei Kinder, zwei und drei Jahre alt, körperlich misshandelt, sexuell auffällig, schreckhaft und ohne Grund schreiend, hygienisch absolut unterversorgt: Alle Milchzähne und darunter liegenden Zahnanlagen müssen operativ entfernt werden. Die Mutter benötigt psychotherapeutische Behandlung. „Solche Fälle sind keine Seltenheit mehr. Manche sind so extrem, dass wir sie selbst in dieser Einrichtung nicht auffangen können“, weiß Ursula Jenke.
Eine schwierige Entwicklung, die den Bedarf des Eltern-Kind-Wohnens vergrößert. „Die Beziehung von Mutter und Kind ist enorm wichtig. Da gibt uns unser christliches Leit- und Menschenbild Orientierung. Wir wollen unsere Werte vorleben, müssen aber diese jungen Menschen mit ihrer eigenen Sozialisation verstehen, um miteinander arbeiten zu können“, erklärt Ursula Jenke, warum dem Träger diese Einrichtung wichtig ist. Schon der Gründerin der Ordensgemeinschaft, der heiligen Maria Magdalena Postel, war es ein großes Anliegen, jungen Mädchen und Frauen Bildungschancen und Lebenswege zu eröffnen.
Das hat auch Anja Z. begriffen: „Zwischendurch wollte ich nur noch weg. Erst sollte ich nur für ein paar Wochen bleiben. Dann auf einmal ein halbes Jahr. Mein Zuhause ist woanders.“ Aber sie spürte, dass sie den Mitarbeiterinnen im Julie-Postel-Haus vertrauen kann. Eine Erfahrung, die sie sonst erst selten im Leben gemacht hat.
Ein Krisengespräch brachte die entscheidende Wende
Die Wende brachte ein Krisengespräch, bei dem die 29-Jährige auch auf die Anwesenheit ihres Anwalts bestand. Auf einmal saßen die Hausleiterin, die Vertreter des Jugendamtes und ihr Anwalt um sie herum: „Erst da begriff ich: Ich habe falsch gehandelt und nicht gut nachgedacht.“
Von da an verbesserte sich prompt auch das Verhältnis zu den 15 Mitarbeiterinnen des Julie-Postel-Hauses. „Erst wenn die Einsicht da ist, kann die Mutter in ihrem Leben wirklich etwas verändern. Sonst können wir nur Alltagssituationen trainieren“, weiß Ursula Jenke.
Einen Tiefpunkt gab es noch einmal, als das letzte Gutachten des Jugendamtes eintraf. Als Anja Z. auf der dritten Seite las, dass ihre Erziehungsfähigkeit weiterhin eingeschränkt ist, flüchtete sie zu ihrem Mann und war einfach zwei Tage nicht da. Dabei belegten die 20 Folgeseiten des Gutachtens sehr wohl, dass die Zusammenführung von Mutter und Kind Erfolg verspricht.
Anja Z. kam wieder. Das rechnet ihr Ursula Jenke hoch an. Denn manche Mütter verlassen die Einrichtung auch in dem Wissen, dass das Kind dann endgültig in eine Pflegefamilie geht. Seit die gebürtige Polin in der Einrichtung lebt, waren es fünf. „Aber auch dann ist unsere Arbeit nicht gescheitert“, sagt Ursula Jenke: „Denn zum einen kann ihnen die gemeinsame Zeit, die sie hier verbracht haben, keiner mehr nehmen. Und zum anderen gehört selbst zu der Entscheidung, das Kind abzugeben, viel Mut. Wenn ich weiß, dass ich mit dem Kind überfordert bin, ist auch diese Einsicht ein Ausdruck von Liebe.“
Beitrag für neues Magazin
Dieser Artikel erschien auch in dem Magazin „Katholisches Leben in Meschede und Bestwig“, an dem die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel im Bergkloster bestwig gemeinsam mit dem Berufskolleg Bergkloster Bestwig und der Bildungsakademie für Therapieberufe als Mitherausgeber beteiligt sind. Das Magazin wird als Modellprojekt im Erzbistum Paderborn gefördert.