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Das Engelsburg-Gymnasium in Kassel gibt seinen Schülern in der achten Klasse eine Auszeit vom hektischen Schulalltag. Analog und offline verbringen sie zwei Wochen auf einer Halbinsel der Fulda und nehmen den Lehrstoff in Projekten auf.
„Vor zwei Wochen hätte ich noch eine Stunde dafür gebraucht. Jetzt geht es schon in zehn Minuten“, sagt Indira Peters. Konzentriert spannt sie die Bänder des Drillbohrers, die eine kleine Einsenstange drehen. Und so entsteht in der Muschel, die darunter liegt, allmählich ein kleines Loch. Später werden die so präparierten Muscheln auf einen Faden gezogen und als Schmuck um den Hals gehängt.
Die 14-Jährige Schülerin des Engelsburg-Gymnasiums in Kassel hat sich für zwei Wochen in die Steinzeit begeben, zumindest für die Nachmittage – beim projektorientierten Lernen auf Gut Kragenhof. „Hier wollen wir die Jugendlichen einmal aus dem Unterrichtsalltag herausreißen. In der fünften und sechsten Stufe sind sie noch motiviert. Und wenn es auf die Abschlüsse zugeht, genauso. Aber jetzt, mitten in der Pubertät, ist das schwierig“, sagt Ralf Speckmann. Er ist einer der Initiatoren des Projekts.
Zwölf Tage leben die Schüler auf dem Gutshof, 13 Kilometer von der Engelsburg entfernt. Sie fahren mit dem Fahrrad dorthin und haben nur das Nötigste mit: Kleidung, Schreibzeug, Bücher, vielleicht noch einen mp3-Player und fünf Euro Taschengeld. Für die ganze Zeit gilt: Kein Handy, kein Computer, kein Fernsehen – von der Tagesschau um 20.15 Uhr abgesehen. Der Tag beginnt um 6.45 Uhr mit dem Frühsport. Und um zehn Uhr abends ist das Licht aus. „Damit bieten wir ein Kontrastprogramm zu der schnellen Zeit, in der unsere Kinder, erst recht seit der Einführung des G8-Gymnasiums, durch die Schule jagen. Hier lerne ich an den Schülern ganz neue Qualitäten kennen“, sagt Lehrerin Melanie Luttrop. Einer der beiden Klassenlehrer der 8a ist während der ganzen Zeit dabei. Ebenso wie die Schulsozialarbeiterin Saskia Köhler.
Nach dem Frühstück geht es in den projektorientierten Unterricht. Dann wird in Physik schon mal die Fulda vermessen und in Mathe ausgerechnet, wie viel Farbe für den Anstrich der Fußballtore benötigt wird. „Endlich können Formeln angewendet werden“, ist auch Student Alexander Rexius begeistert. Er und sein Kommilitone Robin Göring absolvieren hier ein Praktikum für ihr Lehramtsstudium.
Mittags tischen fünf Schüler, die gekocht haben, das Essen auf. Dieselben fünf dürfen danach auch spülen. Elias Lange findet das „ganz schön chaotisch.“ Natürlich hat der 13-Jährige zu Hause auch schon ganz oft in der Küche geholfen: „Aber da gibt es eine Spülmaschine.“ Die fünf sind beim Kochen und Aufräumen auf sich gestellt. Auch das gehört mit zum Projekt.
„Es gibt Schüler, die noch nie ein Bett bezogen, geschweige denn Kartoffeln geschält haben“, weiß Ulrike Möller-Merz. Sie ist nicht nur Lehrerin an der Engelsburg, sondern lebt auch mit ihrer Familie auf dem Kragenhof.
Briefe schreiben – analog und offline
Wie sich beim Mittagessen herausstellt, haben viele der Jugendlichen auch noch nie einen Brief geschrieben. Jedenfalls lässt der Postbote ausrichten, dass man den Schülern doch einmal mitteilen möge, in welcher Reihenfolge die einzelnen Bestandteile der Adresse auf dem Umschlag zu stehen haben. Ralf Speckmann gibt es beim Nudelauflauf bekannt: „Erst der Name, dann die Straße, dann die Stadt. Und die Postleitzahl nicht vergessen.“
Selten schreiben die Schüler so viel wie hier. Abends halten sie mit ihrem Tagebuch an ihrem Lieblingsort eine Dreiviertelstunde Silentium. Und in der Mittagspause werden Briefe verfasst. „Ich habe eine Freundin, die ich über Schüler-VZ kenne. Die bekommt eigentlich nur Mails“, grinst die 14-jährige Corinna Frank, als sie in der Mittagspause schreibend auf ihrem Bett liegt. Jeweils zu weit oder zu dritt teilen sich die Jungen und Mädchen ein Zimmer.
Nachmittags geht es dann in die Projekte. Der Umweltpädagoge Gerd Greskamp zeigt den Schülern, wie man früher Feuer machte. Der Schauspieler Martin Rüegg bringt seine Gruppe dazu, zu improvisieren, sich zu öffnen, lockerer zu werden. Und der Zimmermeister Hans-Hermann Müller schüttelt den Kopf, als der 14-jährige Lukas mit dem falschen Bohrer ankommt: „Mensch, wie oft hast Du denn schon einen Kegelsenker in der Hand gehabt?!“ – „Stimmt“, sagt Lukas, und läuft zurück. Zusammen mit acht Schülern baut der Handwerker einen Wohnwagen aus: „Der soll später einmal ein Café werden, das sich die Schüler selbst einrichten können.“ Die Schüler haben Spaß daran, auch wenn der Tonfall manchmal schärfer ist. Eben ganz unpädagogisch.
In diesem Schuljahr verbringen zum ersten Mal alle achten Klassen der Engelsburg zwei Wochen auf dem Kragenhof. „Viele Eltern waren skeptisch. Auch weil die Klassenfahrt in der Neun dafür entfällt“, erklärt Ralf Speckmann. „Aber mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass es viel bringt. Auch meine Klasse ist seitdem viel selbstständiger geworden.“