Analyse des Sozialstaates beim Politischen Forum – Franz Müntefering und Friedrich Merz diskutieren auf dem Podium
Bestwig. Zwei wichtige gesellschaftliche und politische Herausforderungen liegen in den nächsten Jahren darin, das Problem fehlender Facharbeiter zu lösen und den wachsenden Anteil gering Qualifizierter in Beschäftigung zu bringen. Darin waren sich Franz Müntefering und Friedrich Merz bei dem Politischen Forum der Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel am Dienstagabend, 15. Mai, fast einig. Die Lösungsansätze können aber verschiedene sein.
Über 300 interessierte Besucher
Rund 300 Besucher hatten sich zu der Podiumsdiskussion unter der Themenstellung „Abgeschobene Verantwortung? Soziales Handeln in Politik und Kirche“ im Bestwiger Rathaus eingefunden. Der Verantwortung für einen weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit wollen sich der Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie der Sauerländer Bundestagesabgeordnete – trotz fehlender Patentrezepte – auf jeden Fall nicht entziehen. Der Sozialethiker Dr. Matthias Möhring-Hesse stellte allerdings die These auf: „Gering Qualifizierte finden nicht deshalb keine Arbeit, weil es die nicht gäbe. Aber ihre Arbeitsplätze werden von Höher-Qualifizierten eingenommen.“ Und hier sei der Staat gefordert: „Denn es kommt darauf an, diese Arbeitsplätze für Gering-Qualifizierte abzusichern. Sonst haben wir einen ‚Sicker-Effekt‘.“
Der Dozent der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster vervollständigte das Podium gemeinsam mit der Generaloberin der Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel, Schwester Aloisia Höing. Auch an sie richtete Dr. Möhring-Hesse seine Frage, ob kirchliche Bildungsträger nicht selbst Gefahr liefen, ein Instrument der Selektion zu werden. „Denn an deren Schulen gibt es weniger Ausländer. Und meist Eliten.“ Ein Argument, das Schwester Aloisia differenzieren wollte: „Auch wenn dies für unsere Gymnasien teilweise zutreffen mag, so wenden wir uns in den Berufsbildenden Schulen doch gerade der Aus- und Weiterbildung Gering-Qualifizierter zu.“
„Erst muss man gehen lernen“
Anfangen müsse man allerdings schon im Kleinkind-Alter. Franz Müntefering benutzte dafür ein einfaches Bild: „Wenn jemand stolpert, muss man ihm wieder aufhelfen. Aber erst ‚mal muss er überhaupt gehen lernen.“ Wie sehr gerade die ersten Lebensjahre prägen, erfahren die Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel auch im von fast 200 Jungen und Mädchen besuchten Bergkindergarten in Heiligenstadt, auf den Sr. Aloisia verwies.
„Globalisierung ist eine Chance“
Michaela Pilters, Leiterin der Redaktion Religion und Leben beim ZDF, sprach vor diesem Hintergrund als aufmerksame Moderatorin auch das Thema Globalisierung an. Die Angst, dass dieser Prozess die Ausgrenzung der Schwächsten nur noch beschleunigt, wurde von allen Podiumsteilnehmern geteilt. Dennoch werteten sie die Globalisierung vor allem als eine Chance. Schwester Aloisia sah dies aus der Perspektive der Ordensgemeinschaft: „Wir erleben uns immer wieder im internationalen Austausch. Und die Begegnung verschiedener Kulturen ist eine enorme Bereicherung.“
Friedrich Merz stellte fest, dass die Globalisierung keine neumodische Erscheinung sei: „Die gab es schon zu Zeiten der Seidenstraße. Und als Exportweltmeister gehören wir zu den Nutznießern dieses Prozesses. Aber natürlich beschleunigt sich das Leben durch unsere modernen Kommunikationsmedien immer mehr. Alles passiert jetzt und weltweit. Wir müssen zusehen, dass die Entwicklung der Gesellschaft damit Schritt halten kann.“
Dr. Matthias Möhring-Hesse bewertete diese Epoche weniger dramatisch: „Umbruch ist immer weniger als uns die Rhetorik der Medien Glauben macht.“ Dem widersprach allerdings Franz Müntefering: „Mein Vater hatte noch sieben Geschwister. Heute haben mehr als die Hälfte der Kindergartenkinder keine mehr. Und ich habe zum ersten Mal mit 13 Jahren ferngesehen. Heute werden die Kinder mit diesen Medien groß. Dies ist schon ein ganz enormer Umbruch.“
„Steigender Egoismus“
Wie sehr dieser Umbruch auch von den Medien gesteuert werde, beschäftigte Friedrich Merz: „Ich kriege immer einen dicken Hals, wenn ich den Geiz-macht-geil-Slogan höre. Das suggeriert doch: Wenn man geizig und egoistisch ist, kann man sich alles leisten…“ Soziale Kompetenzen würden immer stärker vernachlässigt. Und das könne der Staat nicht alles auffangen: „Ein Drittel unseres Brutto-Inlandproduktes fließt in soziale Sicherungssysteme. Und der Verbrauch des Staates an öffentlichen Einnahmen beträgt 57 Prozent. Das sind weltweite Spitzenwerte.“
„Respekt vor Rente mit 67“
Die demografische Entwicklung führe dazu, dass dieser Anteil sogar noch steige. „Schon jetzt geben wir 80 Milliarden Euro jedes Jahr für die Rente aus. Deshalb ist die Förderung der privaten Vorsorge durch die Riester-Rente auch gar nicht so schlecht“, urteilte Merz. In dieser Hinsicht sprach er seinem politischen Widersacher Franz Müntefering sogar ein Kompliment aus: „Respekt, dass Sie die Rente mit 67 durchgesetzt und durchgehalten haben.“ Der Minister selbst fügte hinzu: „Es wäre vielleicht populärer gewesen, dies nicht zu tun und die Renten zu erhöhen. Aber bis 2030 werden nur noch 1,9 Beschäftigte einen Rentner finanzieren müssen. Umso wichtiger ist es, alles verfügbare Geld in die Ausbildung unserer Kinder zu stecken.“ Dr. Matthias Möhring-Hesse unterstrich: „Dazu passt, dass die Bildung auch als erstes im Leitspruch Ihrer Ordensgründerin vorkommt: Die Jugend bilden, die Armen unterstützen und nach Kräften Not lindern.“
Auf diese Weise verdeutlichte das Politische Forum, wie aktuell dieser Leitsatz vor dem Hintergrund sozialpolitischer und gesellschaftlicher Herausforderungen heute noch ist. Und Schwester Aloisia fügte abschließend hinzu: „Angesichts des Mottos in unserem Jubiläumsjahr – Auf dem Weg der Barmherzigkeit –wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der wir uns wieder mehr in die Augen schauen. Nur so können wir Vertrauen entwickeln. Und Vertrauen ist die wichtigste Voraussetzung für Veränderungen.“